“Quantified Self ist einer der Top-Trends des Jahres” – Florian Schumacher im Interview
Bei Florian Schumacher fing alles mit dem Wunsch nach mehr Effizienz und der Software RescueTime an. Dann kam der erste Kontakt mit der Quantified Self-Bewegung. Heute ist Schumacher begeisterter Selbstvermesser. Nach dem Maschinenbau-Studium an der TU München sowie Design Thinking-Studium am Hasso-Plattner-Institut in Potsdam bloggt Schumacher heute unter igrowdigital und will Quantified Self in Deutschland berühmt machen. Am kommenden Donnerstag findet dazu die Auftaktveranstaltung der Berlin Quantified Self Meetup Group in Berlin statt.
Florian, Venture Beat erklärt Quantified Self als einen der Top 10 Trends des Jahres 2012. In Deutschland scheint das Thema jedoch noch nicht so richtig angekommen zu sein. Kannst Du kurz erklären, was Quantified Self ist?
The Quantified Self ist ein weltweites Netzwerk aus Anwender und Anbietern von Lösungen zur Erfassung persönlicher Daten mit dem Ziel der Selbsterkenntnis und Selbstmotivation. Quantified Self Anhänger verwenden Apps und Sensoren zur Messung von Daten für Sport, Gesundheit, Ernährung aber auch Produktivität, Bildung oder zum Verhalten. Diese Daten dienen als Spiegel, in dem man sich selbst erkennen kann, werden von Apps aber auch häufig eingesetzt, um den Anwender zu einer besseren Leistung zu motivieren oder das Verhalten von Anwendungen an die individuellen Anforderungen des Nutzers anzupassen.
Wo und wie hat Quantified Self angefangen?
Gary Wolf und Kevin Kelly, zwei Technik-Journalisten des Wired Magazins, gründeten 2007 das Blog quantifiedself.com, auf dem sie zunächst theoretisch über das Phänomen Self-Tracking und die entsprechenden Produkte berichteten. 2008 fand das erste Treffen der Bay Area Quantified Self Meetup Group statt, wobei der Charakter der heutigen Quantified Self Bewegung entstand. Bei diesem Treffen stellten mehrere Teilnehmer, darunter auch der Autor und Biohacker Tim Ferris, ihre über sich selbst gesammelten Daten vor und diskutierten, was aus diesen Daten gelernt werden könnte. Dieses Show & Tell genannte Format ist die Blaupause für mittlerweile über 90 Gruppen weltweit, in denen sich Menschen zum Erfahrungsaustausch und Networking treffen.
Wozu sind diese Daten gut und was kann ich damit anfangen?
Die Bedeutung der Daten ergibt sich aus der individuellen Situation des Anwenders. Steven Dean, der Keynote Speaker beim kommenden Quantified Self Meetup in Berlin, hat in Vorbereitung auf einen Iron Man Triathlon jeden Morgen seinen Ruhepuls ermittelt. So konnte er seinen Trainingsfortschritt nachvollziehen und die Intensität seines Trainings optimieren. In diesem Beispiel dienen die Daten als persönliches Benchmark, um Veränderungen nachvollziehen zu können. Ebenso gibt es aber auch Patienten, die mit verschiedenen schulmedizinischen oder alternativen Behandlungsformen experimentieren, um Heilung oder Linderung ihrer Symptome zu finden. Hier dienen die Daten der Auswertung eines Selbstexperiments, um individuell passende Lösungen zu identifizieren. Darüber hinaus gibt es auch einen eher spielerischen Ansatz des Datensammelns. Manche Menschen zeichnen mit Hilfe ihres Smartphones permanent ihren Aufenthaltsort auf oder verwenden Life-Logging Kameras, um alle 30 Sekunden ein Bild von ihrer Umgebung zu machen. Auch hier geht es um die Idee, durch Analyse der Daten Muster zu erkennen oder wertvolle Erinnerungen bewahren zu können. Am Mainstream-orientierten Ende des Spektrums von Quantified Self geht es um einfache Anwendungen, wie Schrittzäher und vernetzte Waagen, mit denen mann seine Gewichtskurve direkt auf dem Smartphone betrachten kann. Solche Lösungen können Menschen zu einem aktiveren Alltag und einer gesünderen Lebensweise motivieren.
Du hast da selbst auch zwei Geräte am Handgelenk. Was machen die?
[Florian Schumacher trägt zwei schwarze Armbänder an seinem Handgelenk] Ich teste derzeit das Nike Fuelband und das Jawbone Up, um auf meinem Blog darüber zu berichten. Das Fuelband misst meine Bewegungsaktivität und zeigt über eine Ampelfunktion an, wie nahe ich meinem Tagesziel gekommen bin. Das Jawbone Up misst ebenfalls die Bewegungsaktivität im Alltag, weckt darüber hinaus sanft in der Leichtschlafphase und kann in Verbindung mit einer Smartphone App zum Tracking der Ernährung eingesetzt werden.
In Deutschland gibt es eine erschreckende Zahl an Fehldiagnosen durch Ärzte. Wie hoch schätzt Du das Risiko ein, dass Anwender durch die Messungenauigkeit ihrer Endkonsumenten-Produkte oder durch falsche Interpretation ihrer Ergebnisse gesundheitlichen Schaden nehmen?
Produkte, wie Schrittzähler weisen je nach Bauart Messefehler im Bereich von mehreren zehn Prozentpunkten auf. Wenn man ein Produkt mit eher konservativ zählenden Algorithmen verwendet, kann dies ärgerlich für den Vergleich mit anderen sein. Eine medizinische Fehlentscheidung dürfte aus dem Wert jedoch nicht hervorgehen. Losgelöst von absoluten Zahlen, dient die Aktivitätsmessung den meisten Menschen hauptsächlich zur Selbstmotivation, was mit den meisten der verfügbaren Produkte sehr gut funktioniert. Bei medizinischen Anwendungsfällen ist vom Hersteller eine Zertifizierung von Hard- und Software notwendig, sodass sich z.B ein Diabetiker auf die Genauigkeit seines Blutzuckermessgeräts definitiv verlassen kann. Schon heute lesen viele Menschen, die ihre eigene Situation verstehen möchten im Internet Informationen zu ihren Krankheiten und Symptomen. Wenn man mehr Daten über sich selbst kennt, kann dies helfen, sich besser innerhalb einer Krankheits- oder Symptom-Beschreibung zu verorten. Natürlich sollte man sich den Grenzen seines eigenen Verständnisses bewusst sein und im Zweifelsfall einen Arzt konsultieren. Je stärker unser Gesundheitssystem die von Patienten selbsterfassten Werte in Diagnose und Behandlung integriert, umso besser können Patienten betreut und Verunsicherungen vermieden werden.
Die bei Quantified Self betrachteten Vitalitäts- und Verhaltensparameter sind hoch sensible Informationen. Wie sieht es mit Datensicherheit und Privatsphäre aus?
Wie bei allen anderen Internet-basierten Anwendungen ist bei den meisten Apps und Diensten zum Self-Tracking eine selbstverantwortliche Nutzung entscheidend. Hier sollte man sich stets damit Vertraut machen, welche seiner Daten für wen einsehbar sind, und ähnlich wie bei sozialen Netzwerken seine Privatsphäre-Einstellungen bewusst festlegen. Ebenso sollte man sich über die AGBs der verwendeten Dienste informieren, um eine eventuelle Verletzung der eigenen Vorstellung von Privatsphäre auszuschließen. Die Angriffe auf cloudbasierte Dienste in den vergangenen Monate haben gezeigt, dass es immer eine Restgefahr für im Internet gespeicherte Daten geben wird. Persönlich halte ich meine Gesundheitsinformationen für weitaus weniger kritisch als z.B. meine Bankinformationen und schätze den Nachteil, welcher für mich entstehen könnte, wenn meine gesundheitlichen Informationen im Ernstfall nicht vorhanden oder verfügbar sind, als weitaus größer ein.
Was ist wenn Versicherungskonzerne, die von ihren Kunden erfassten Gesundheitsdaten verwenden, um die Versicherungspolice entsprechend anpassen?
Schon heute gibt es Bonusprogramme, die den Besuch eines Yoga-Kurses oder das Training im Fitnessstudio bezuschussen. Hier wäre es nur fair, wenn Menschen, die sich durch Jogging fit halten, ebenfalls eine Prämie erhalten die auf dem Nachweis ihrer Laufleistung basiert. Das Deutsche Gesundheitssystem ist im internationalen Vergleich sehr solidarisch orientiert und setzt aktuell kaum auf die Selbstverantwortung der Bürger. Eine stärkere Incentivierung eines gesunden Lebensstils, welche für viele Menschen möglicherweise zu mehr Lebensqualität führen könnte und zugleich unser Gesundheitssystem entlastet, wird zukünftig sicher noch häufig diskutiert werden.
Du hast vor kurzem die Quantified Self Konferenz in Palo Alto besucht. Wie war Dein Eindruck und wer war alles da?
Bei der Konferenz im Alumni Center der Stanford University haben sich ca. 600 Self-Tracker, Wissenschaftler, Journalisten und Unternehmer getroffen. Auf dem Programm standen zahlreiche Erfahrungsberichte von Menschen, die Daten über sich selber gesammelt haben aber auch theoretische Inhalte zu Themen wie Sensoren, Datamining oder Verhaltensänderung. Außerdem gab es ausgezeichnete Networkingmöglichkeiten für Startups und Unternehmer, wobei viele der etablierten Unternehmen aus dem Silicon Valley aber auch einige Newcomer vertreten waren.
Für deutsche-startups.de sind Startups und neue Geschäftsmodelle natürlich besonders interessant. Welches Potential steckt Deiner Meinung nach in Quantified Self für eine neue Welle an Unternehmensgründungen und Innovationen?
Aktuell besteht ein großes Potential bei Anwendungen für Sportler, chronischen Patienten aber auch Lifestyle-Produkten, für einen gesünderen, aktiveren oder entspannteren Alltag. Mittelfristig werden immer mehr intelligente Assistenzdienste auf der Basis des Nutzerverhaltens entstehen und auch Themen wie Work-Life-Balance und Persönlichkeitsentwicklung hinzukommen. Außerdem entsteht vermutlich ein ganz neuer Markt für Unternehmen, die anonymisierte Nutzerdaten aggregieren und auswerten. Die in immer größerem Umfang verfügbaren Rohdaten können durch Schaffung von Bezügen aufgearbeitet und für Forschung und Entwicklung eingesetzt werden. Hierin liegt ein großes Potential, weshalb sich die Gründer von Quantified Self für einen offenen und transparenten Umgang mit Daten einsetzen.
Welche Informations- und Austauschmöglichkeiten gibt es für Menschen, die sich für Quantified Self interessieren?
Neben dem amerikanischen Blog quantifiedself.com, auf dem alle Informationen zu den internationalen Aktivitäten und zahlreiche Videos und Erfahrungsberichte zu finden sind, veröffentlichen wir Informationen für den deutschsprachigen Raum unter qsdeutschland.de. Bei Facebook gibt es deutsch- und englischsprachige Quantified Self Gruppen zum Austausch und besonders geeignet sind natürlich die Show & Tell Gruppen in Städten wie Berlin, Hamburg oder München. Im Mai nächsten Jahres findet die Quantified Self Europa-Konferenz in Amsterdam statt, bei der viele internationalen Gäste vertreten sein werden.
Die Auftaktveranstaltung der englischsprachigen Berliner Quantified Self Gruppe findet am 22.11.12 statt. Kannst Du uns kurz erzählen, wie man daran teilnehmen kann und was einen erwartet?
Bei unserem ersten Show & Tell gibt Steven Dean, Leiter der New Yorker Quantified Self Gruppe eine Keynote über Quantified Self und berichtet über seine persönlichen Erfahrungen mit Self-Tracking während der Vorbereitung auf einen Iron Man Triathlon. Denis Harscoat, Co-Founder der Pariser und Londoner Quantified Self Gruppen ist ebenfalls zu Gast und spricht über das Self-Tracking von Handlungen in Verbindung mit dem Erreichen von Excellenz in beruflichen und privaten Bereichen. Neben weiteren Talks gibt es umfangreiche Networking-Möglichkeiten und eine Demo Hour in welcher Berliner Startups ihre Anwendungen aus dem Quantified Self Umfeld vorstellen. Der Besuch des Show & Tells ist kostenlos – weitere Informationen und Anmeldung auf dieser Seite.
Florian, wir danken Dir für dieses Gespräch. Ein letzte Frage zum Schluss: wie viele Schritte bis Du heute schon gelaufen?
[Florian schaut auf seinen Schrittzähler] Bis jetzt waren es 4.500 Schritte – bis zum Abend geht sicher noch Einiges.