#Gastbeitrag

Was Startups von Estland lernen können

Estland ist ein sehr kleines Land. Für die digitale Entwicklung Estlands war und ist das ein Vorteil. In einem Land, das weniger Einwohner hat als die bayerische Landeshauptstadt, ist es deutlich einfacher, Veränderungen herbeizuführen als in einem großen föderalistisch geprägten Land.
Was Startups von Estland lernen können
Freitag, 14. Januar 2022VonTeam

Estland ist ein kleines baltisches Land mit nur 1,3 Millionen Einwohnern und bescheidenen Wurzeln. Trotzdem wird es weithin als eine der fortschrittlichsten digitalen Gesellschaften der Welt angesehen. Online wählen, Bankgeschäfte abwickeln und auch sämtliche Aspekte des Gesundheitssystem digital erledigen – das ist in Estland schon lange ganz normal. Das Gleiche gilt zum Beispiel auch für die Gründung eines Unternehmens oder die Anmeldung eines neugeborenen Babys. Was ist das Erfolgsgeheimnis und was können Start-ups von Estland lernen?

Erst die Geschäftsstrategie, dann die Technologie

Die erfolgreiche Entwicklung Estlands hin zu einem digitalen Vorreiter kann in vielerlei Hinsicht mit der eines erfolgreichen Start-ups verglichen werden. Als dieser kleine baltische Staat 1991 seine Unabhängigkeit erlangte, verfügte er nur über sehr begrenzte finanzielle Mittel. Auch Technologieplattformen, auf denen er aufbauen konnte, gab es nicht. Die einzige Möglichkeit für estnische Unternehmen, IT-Systeme zu implementieren, bestand darin, sie von Grund auf neu zu entwickeln. Aus dieser vermeintlichen Not wurde Estlands größte Tugend: Der Mangel an vorhandenen IT-Systemen und Finanzmitteln veranlasste das Land, von Anfang an eine digital-innovative und zukunftsorientierte Denkweise anzunehmen und Technologie zu nutzen, um bequemere und flexiblere Lebens- sowie Arbeitsweisen aufzubauen.

Die politischen Entscheidungsträger hatten damals den Mut, radikale Schritte zu gehen, um das Land zu digitalisieren: Sie machten den Internetzugang zu einem grundlegenden Menschenrecht und riefen die so genannte “e-Estonia”-Bewegung ins Leben. Mit dem Resultat, dass heute 99 Prozent aller behördlichen Vorgänge online zu erledigen sind. Diese Mentalität, die bisherige Arbeitsweise in Frage zu stellen, kreativ zu sein und Technologie zu nutzen, um effizienter zu werden, ist tief in der Kultur verwurzelt. Als entsprechendes Beispiel dient die Einführung eines digitalen Systems, wenn keine Mittel für die Einrichtung öffentlicher Ämter im ganzen Land vorhanden sind, oder auch die Einführung der elektronischen Stimmabgabe, damit selbst die im Ausland lebenden Esten ihre Stimme abgeben können. Diese Entwicklung ist auch im privaten Sektor sichtbar: Estland gilt heute als eine sehr technikaffine Nation, aus der viele erfolgreiche Start-ups hervorgegangen sind und die mehr Unicorns pro Kopf hervorgebracht hat als jedes andere Land in Europa.

Estland ist eine digitale Erfolgsgeschichte, die auf der estnischen Kultur beruht: Neben dem innovativen Einsatz von Technologie sind auch die “Can-do”-Einstellung und das “Out-of-the-Box”-Denken wichtige Pfeiler eben dieser Kultur. Allzu oft gehen junge Unternehmen davon aus, dass der Besitz von Technologie ihnen automatisch eine erfolgreiche Strategie verschafft. Aber so einfach ist es nicht. Um sich von der Konkurrenz abzuheben, müssen Start-ups zuerst ihre Strategie entwickeln und dann Technologien einsetzen, die ihnen dabei helfen, Ziele zu erreichen und Probleme zu lösen. Gleichzeitig müssen sie sicherstellen, dass ihr Geschäftsmodell das Beste aus dieser Technologie-Investition herausholen kann.

Schlanke und vielseitige Strukturen

Estland ist ein sehr kleines Land – im Vergleich zu Deutschland quasi ein Start-up. Für Estland beziehungsweise die digitale Entwicklung Estlands war und ist das ein Vorteil. Denn: In einem Land, das weniger Einwohner hat als die bayerische Landeshauptstadt, ist es deutlich einfacher, Veränderungen herbeizuführen als in einem großen föderalistisch geprägten Land. Aber bei dieser Entwicklung spielen nicht nur nackte Zahlen eine Rolle. Vielmehr neigen estnische Unternehmen – möglicherweise aufgrund ihres bescheidenen Hintergrunds – zu einer flachen Struktur, verglichen mit der traditionellen, hierarchischen Struktur von Banken und Unternehmen in anderen europäischen Ländern.

Dieser Ansatz, bei dem die Tür des Geschäftsführers immer offen steht und die Meinung aller berücksichtigt wird, führt zu einer Kultur der Offenheit und Innovation – ein idealer Nährboden für Unternehmer und Existenzgründer, die sich trauen, Risiken einzugehen. Um ein optimales Wachstumsumfeld zu schaffen, müssen Start-ups nicht nur von Anfang an eine flache Struktur einführen. Auch beim Recruiting sollten sie aufgeschlossen sein und aktiv nach Personen suchen, die andere Fähigkeiten, Ideen und Perspektiven haben als sie selbst, aber dennoch die gleichen Werte teilen. Das ist die beste Grundlage für Innovation und Inspiration.

Große Ziele und globales Mindset – von Anfang an

Ein weiterer Puzzlestein, der zu Estlands Erfolg als digitaler Vorreiter auf globaler Ebene geführt hat, ist seine Fähigkeit global zu denken. Als kleines Land liegt das in der Natur der Dinge, werden die Landesgrenzen doch schon sehr früh zu eng. Unternehmen entwickeln deshalb von Anfang an Produkte für ein internationales Publikum. Es gibt sicher Start-ups, vor allem aus größeren Ländern, die nicht über ihre eigenen (Landes-)Grenzen hinausschauen müssen, um ihre wirtschaftlichen Ziele zu erreichen. Große Ziele und ein globales Mindset haben bisher aber keinem Unternehmen geschadet.

Auch die estnische Regierung spielt eine wichtige Rolle, besonders, wenn es darum geht, die Vorreiterrolle auch langfristig zu halten. Estlands Ethos, sich selbst zu verbessern und die bestmöglichen Technologieprodukte und -dienstleistungen sowohl im Inland als auch international anzubieten, spiegelt sich in Maßnahmen wie dem Startup-Visum wider. Dieses erleichtert es Unternehmen auf Wachstumskurs die richtigen Talente ins Land zu holen.

Start-ups müssen sich von Tag eins an hohe Ziele setzen und eine globale Expansionsstrategie entwickeln. Letztlich ist es das, was ihnen helfen wird, zu wachsen und sich von einem Start-up oder einem Unicorn zu einem erfolgreichen und internationalen Unternehmen zu entwickeln.

Über die Autorin
Vilve Vene ist FinTech-Pionierin und CEO von Tuum, einer Core-Banking-Plattform mit Sitz in Tallinn.

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Foto (oben): Shutterstock