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“Wir dachten, chronische Patienten rennen uns die Bude ein”

Das Health-Unternehmen MedKitDoc setzt auf medizinische Fernbehandlungen. "Wir sind stark gewachsen, da wir mit der gerätegestützten Fernbehandlung scheinbar echt einen Nerv in der Pflegebranche getroffen haben", sagt MedKitDoc-Macher Jan Koolen.
“Wir dachten, chronische Patienten rennen uns die Bude ein”
Dienstag, 24. September 2024VonAlexander Hüsing

Mit MedKitDoc aus Hann. Münden, 2020 von Benjamin Gutermann gegründet, können Patientinnen und Patienten sich nicht nur via Videokonferenz mit einem Arzt austauschen, sondern auch mittels ausgesuchter Geräte untersuchen lassen. Vorwerk Ventures und Acton Capital investieren gemeinsam mit den Altinvestoren Picus Capital und den FlixBus-Gründern zuletzt 7 Millionen Euro in MedKitDoc. Derzeit wirken rund 20 Mitarbeitende für das Unternehmen.

Im Interview mit deutsche-startups.de spricht MedKitDoc-Macher Koolen über einen gescheiterten Pivot, Frühchen und Rückenwind.

Wie würdest Du Deiner Großmutter MedKitDoc erklären?
Nichts fürchten ältere Menschen mehr, als ins Krankenhaus zu müssen. Das weiß ich aus Erfahrung mit meiner eigenen Oma. Wenn sich bei einer Bewohnerin eines Pflegeheims plötzlich der Zustand verschlechtert, bleibt der Pflegekraft meist nichts anderes übrig, als den Krankenwagen zu rufen. Das ist leider Alltag. Denn es fehlen Ärzte, vor allem auf dem Land, die regelmäßig insbesondere chronisch kranke Patienten untersuchen oder im Akutfall helfen können. Weiterhin führt der demographische Wandel in Deutschland neben dem Ärztemangel zu einer dramatisch ansteigenden Zahl von pflegebedürftigen Patienten. Bis zum Jahr 2050 wird sich die Anzahl der Pflegebedürftigen in Deutschland verdoppeln. Genau da setzen wir an: Mit uns können Ärzte aus der Ferne behandeln ohne auf die gewohnte Diagnostik durch Stethoskop und Co. verzichten zu müssen. Dazu liegt im Pflegeheim eines unserer MedKits bereit – ein digitaler Arztkoffer mit allen gängigen medizinischen Geräten wie Stethoskop, Blutdruckmessung usw. Die Pflegerin legt die Geräte an den Patienten an, der Arzt schaltet sich per Video auf das Tablet. Unsere Geräte senden nun live via Bluetooth über unsere App die Vitaldaten an den Arzt und werden für beide Seiten einsehbar gespeichert. Er hat sofort alles im Blick und kann direkt beraten. So wird aus einer Video-Sprechstunde eine echte Fernbehandlung.

War dies von Anfang an euer Konzept oder hat es sich seit dem Start irgendwie verändert?
Wir haben im Jahr 2022 einen B2C-Pivot probiert: Medizinische Geräte zu Hause inklusive App, die dich mit deinem Hausarzt verbindet, während du auf der Couch bleibst und untersucht wirst. Wir dachten, vor allem chronische Patienten rennen uns die Bude ein. Das Interesse war grundsätzlich schon da, aber wir haben damals festgestellt, wie gering die Zahlungsbereitschaft von Privatkunden für medizinische Leistungen in Deutschland ist. Außerdem erschienen uns die sogenannte Customer Acquisition Costs (CAC) deutlich zu hoch für ein nachhaltiges Geschäftsmodell. Wir haben uns dann wieder auf unsere Kernkompetenz zurück besonnen und fokussieren uns wieder auf den B2B Pflege Markt und die gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV). Klingt jetzt voll nach Sales, es ist aber so: Dank unserer Lösung schaffen wir eine Win-Win-Win-Lösung: Der Arzt bleibt in seiner Praxis, die Pflegekraft am Arbeitsplatz, die Patienten in ihrer gewohnten Umgebung im Heim. Eigentlich fehlt noch ein Win: Der Rettungswagen muss auch nicht so häufig gerufen werden. Das spart massiv Kosten und Zeit.

Wie hat sich MedKitDoc seit der Gründung entwickelt?
Wir sind seit etwa vier Jahren am Markt. In der Zeit sind wir stark gewachsen, da wir mit der gerätegestützten Fernbehandlung scheinbar echt einen Nerv in der Pflegebranche getroffen haben. Unser Gründer Ben ist Arzt. Tagsüber hat er praktiziert, abends bastelte er in seinem Keller an den ersten MedKits. Das war am Anfang noch sehr hemdsärmelig, – aber es funktionierte. Und so wurden nicht nur unsere Geräte und unsere App immer besser, sondern auch die Heime immer mehr. Wir sind heute über 20 Leute und betreuen über 70 Heime und mehrere tausend Patienten deutschlandweit.

Welches Projekt steht bei Euch in den kommenden Monaten ganz oben auf der Agenda?
Wir fokussieren uns auf vulnerable Menschen, also die aufgrund von Krankheit oder Alter am gefährdetsten sind. Deshalb testen wir ab Oktober zusammen mit der Charité und der LMU München unsere MedKits auch bei Frühchen. Unser Ziel: Eltern frühgeborener Kinder müssen nicht ewig im Krankenhaus bleiben. Sie können nach Hause in ihre gewohnte Umgebung – das Baby wird aus der Ferne medizinisch überwacht. Wir decken damit die gesamte Lebensspanne ab: von Frühchen bis Rentner quasi.

Blicke bitte einmal zurück: Was ist in den vergangenen Jahren so richtig schief gegangen?
Der B2C-Case. Mit Corona, wo die Video-Sprechstunde ihr High hatte, dachten wir, mit der Ergänzung medizinischer Geräte wäre das die 1-Milliarde-Dollar-Idee. War aber nicht so. Aus unseren gesammelten Erfahrungen haben wir aber eine Menge gelernt und sind jetzt fokussierter denn je auf die Pflege. Hier können wir Millionen Menschen in einer immer älter werdenden Gesellschaft bei gleichzeitigem Ärzte- und Fachkräftemangel extrem helfen. Wir können hier einen wichtigen Beitrag leisten, um vermeidbare Krankenhauseinweisungen zu reduzieren und die Versorgung dieser Menschen zu verbessern und das motiviert mich und das Team wahnsinnig.

Und wo habt Ihr bisher alles richtig gemacht?
Es ist uns gelungen neben namhaften Angel Investoren wie z.B. die Gründer von Flixbus auch namhafte VCs wie Picus, Acton Capital und Vorwerk Ventures von unserer Idee zu überzeugen. Das hat uns natürlich enorm geholfen, um unser Geschäftsmodell in den letzten Jahren zu entwickeln. Wir sind aktuell an über 70 Standorten im Einsatz in der stationären Pflege und vor allem auch in der außerklinischen Intensivpflege. Hier arbeiten wir z.B. mit Pflegeheimbetreibern wie Alloheim und der Deutschen Fachpflege zusammen. Wir haben außerdem das große Glück, bereits Kooperationen mit großen GKV wie der BARMER, der AOK und auch der TK zu haben. Im Rahmen eines dieser Projekte konnten wir im Pfegeheimkontext z.B. eine Reduktion von vermeidbaren Krankenhauseinweisungen um 25% erreichen. Das angesprochene Projekt in der Frühchenversorgung ist ebenfalls ein großer Erfolg für uns und zugleich ein sehr emotionales Thema für mich als werdender Vater.

Welchen generellen Tipp gibst Du anderen Gründer:innen mit auf den Weg?
Gerade wenn du dich in einer Branche bewegst, die in der Vergangenheit von digitalen Innovationen eher weitestgehend ausgelassen wurde wie die Pflege, kann der Gegenwind in Form von Skepsis und Ablehnung manchmal echt kräftezehrend sein. Aber, auch wenn das jetzt etwas pathetisch klingt: Glaub weiter an deine Idee, zeige deine Erfolge auf allen Kanälen und bleib dran, wenn du dir sicher bist, dass es sich lohnt. Und: Fehlschläge gehören zum Erfolg einfach dazu. Lasst euch davon nicht entmutigen.

Wo steht MedKitDoc in einem Jahr bzw. in den kommenden Jahren?
Kurz bis mittelfristig wird es darum gehen, die in den Startlöchern stehenden Projekte sauber auf die Straße zu kriegen sowie mit unseren Bestandskunden weiter zu wachsen, das ist aktuell mein Hauptaugenmerk. Mittelfristig wird es auch darum gehen, nachhaltig zu wachsen und einen klaren Pfad in Richtung Profitabilität aufzuzeigen. Mit etwas Rückenwind könnten wir dieses Ziel im Laufe des kommenden Jahres erreichen. Wir haben außerdem viele spannende Partnerschaften mit echten Branchengrößen in der Pipeline, die sich natürlich immer auch in größere Chancen entwickeln können. Stichwort: Strategische Investments, Exit, etc. Langfristig: Es gibt in Deutschland 16.000 Heime. Wenn wir bis 2030 nur die Hälfte aller Heime an unsere Telemedizin-Plattform anschließen, versorgen wir täglich Millionen Menschen mit echter Fernbehandlung und erleichtern ihnen den Alltag.

Alexander Hüsing

Alexander Hüsing, Chefredakteur von deutsche-startups.de, arbeitet seit 1996 als Journalist. Während des New Economy-Booms volontierte er beim Branchendienst kressreport. Schon in dieser Zeit beschäftigte er sich mit jungen, aufstrebenden Internet-Start-ups. 2007 startete er deutsche-startups.de.