Prove them wrong: Allen Widerständen zum Trotz
Wenige sprechen darüber, doch alle Gründerinnen und Gründer kennen das Gefühl: Vor allem in der Frühphase haben innovative Menschen ständig mit widersprüchlichen Ratschlägen zu kämpfen. Oft müssen sie gegenüber Zweiflern standhalten, die argumentieren, dass die unternehmerische Vision zu groß ist, um je verwirklicht zu werden. Zudem gilt es, Stolpersteine mit bürokratischen Vorgängen zu navigieren und gleichzeitig ihr junges Unternehmen unter schwierigen Marktbedingungen am Leben zu halten und weiter zu finanzieren. Wie gelingt dies allen Widerständen zum Trotz?
Als halb US-Amerikaner, halb Niederländer war ich mir der Unterschiede zwischen dem europäischen und dem US-amerikanischen Startup-Ökosystem immer schon sehr bewusst. Viel Bürokratie, weniger Innovationsmut, eine generell weniger kühne Denkweise, viel kleinere Investmentrunden – hat man die Wahl, so scheinen die Gründe, in den USA statt in Deutschland zu gründen, zu überwiegen. Dennoch haben mein deutscher Mitgründer Robert Lasowski und ich beschlossen, HeyCharge, unser von Y Combinator unterstütztes Unternehmen für EV-Ladetechnologie, in München zu gründen.
Ich war viele Jahre bei Google, Robert bei BMW und Sixt. Unser Gründerteam verbindet die amerikanische “Can-do”- und “Nichts ist unmöglich”-Mentalität mit solider deutscher Qualität und Hightech-Spitzeninnovation. Unser Hauptinvestor ist BMW i Ventures, ein VC-Investor, der selbst zwischen München und dem Silicon Valley sitzt. Wir sind davon überzeugt, dass wir dadurch das “Beste aus beiden Welten” beziehen, und uns diese Mentalität auf dem dynamischen, florierenden – aber auch hart umkämpften – Mobilitätsmarkt einzigartig für den Erfolg positioniert.
Erste Schritte
Fangen wir von vorne an: Der Schlüsselmoment für uns kam, als ich mein erstes Elektroauto nach Hause in die Münchner Innenstadt brachte und feststellte, wie schwer es für Menschen, die in einer Wohnung leben, ist, zu Hause ein Elektroauto aufzuladen. Es gab kein gutes, benutzerfreundliches Produkt für das Laden in Mehrfamilienhäusern, insbesondere keines, das Interessengruppen wie Hausverwaltungen berücksichtigt. Unser Ziel war es von Anfang an, diesen unerschlossenen Markt durch die vertikale Integration eines Hardware-/Softwareprodukts und eines Serviceangebots zu erschließen.
Die ersten Rückmeldungen von Investoren und Beratern waren fast durchgängig skeptisch: von “Seid ihr euch sicher, dass Ladestationen in Mehrfamilienhäusern notwendig sind?” bis hin zu “Besetzt doch lieber eine Nische im Ökosystem wie alle anderen!”.
Diese ersten kulturellen Konflikte stammen von dem generellen Unbehagen externer Stakeholder, etwas Ehrgeiziges und wirklich Neues zu wagen. Diese Skepsis schien mir im europäischen Startup-Ökosystem allgegenwärtig zu sein und spiegelte genau die Risikoscheu wider, die mich ursprünglich aus der Unternehmenswelt ins Unternehmertum getrieben hatte.
Zu dieser Zeit konzentrierte sich das Ökosystem für das Laden von Elektrofahrzeugen tatsächlich auf öffentliche Ladestationen und Einfamilienhäuser – Ladestationen waren nur selten in Mehrfamilienhäusern zu finden. Aber es war für mich selbstverständlich, dass die Kostenbarrieren, die Wohnungsbesitzenden den Zugang zu E-Fahrzeugen erschweren, mit der Verbesserung der Technologie und der Erzielung von Skaleneffekten wegfallen würden, sodass nur noch das eigentliche Ladeproblem im Weg stehen würde. Demnach wäre ein Unternehmen, das mit dem richtigen Produkt in den Startlöchern stünde, in der Lage, den Markt zu erobern.
Wie im sehr empfehlenswerten Buch “Zero to One” von Peter Thiel beschrieben, hatten wir hier einen typischen Fall, wo “mit der Sache, die man für wahr und richtig hält, nur wenige andere Leute übereinstimmen” würden. Ich bin mir sicher, dass viele Gründerinnen und Gründer in der Anfangsphase vor ähnlichen Herausforderungen stehen.
Selbst ich – als risikoaffiner, amerikanischer “Cowboy”-Gründer – habe über drei Jahre lang mit der Idee gespielt, HeyCharge zu gründen, bevor ich schließlich den sprichwörtlichen Sprung ins kalte Wasser wagte. Ich verdanke den Mut, den Sprung zu wagen, drei einfachen, aber prägenden Worten: “Prove them wrong”. Das war im Jahr 2019 der Slogan der Startup-Konferenz Bits & Pretzels, und er war überall zu sehen und hören – auf Präsentationsfolien und Schildern auf der Konferenz, von den Organisatoren auf der Bühne wiederholt – und wenn ich die Organisatoren diese Worte sagen hörte, klang es eher wie ein Kriegsschrei als ein Marketingslogan. Ich spürte, wie mein Vertrauen in meine Idee wuchs, gemischt mit einem neuen Gefühl: die Frustration und Wut darüber, wie viele Leute mir sagten, es würde und könne niemals funktionieren. Ich erkannte sofort, dass das schönste Ergebnis sein würde… ihnen das Gegenteil zu beweisen. Prove them wrong!
Kurz nach der Gründung haben wir ein MVP unseres EV-Ladeprodukts und -dienstes entwickelt und mit einigen uns zugeneigten Kund:innen getestet. Wir stellten anhand ihres Feedbacks fest, dass die meisten Anwendungsstandorte unterirdisch waren. Doch die konnektivitätsbasierte, IoT-ähnliche Architektur, auf die wir (und der gesamte Rest des europäischen Ökosystems für das Aufladen von Elektrofahrzeugen) angewiesen waren, funktionierte in Umgebungen ohne mobile Konnektivität einfach nicht. Der Status quo setzte Cloud-Konnektivität für das Laden von Elektrofahrzeugen voraus, aber die Kunden hatten Probleme, mit den Geräten, die direkt vor ihnen standen, zu interagieren.
Das große Umdenken
Wir nahmen einen Schritt zurück und reflektierten die Auswirkungen dieser Erkenntnis, die zum zweiten Schlüsselmoment werden sollte. Rückblickend war dies der Moment, der unser Unternehmen, unsere Produkt- und Technologiestrategie und unsere gesamte Zukunft bestimmen sollte.
Wir beschlossen, die Art und Weise, wie Nutzer:innen, Ladestationen und Cloud-Backend-Systeme miteinander kommunizieren, völlig neu zu gestalten. Alle Nutzer:innen unserer mobilen App würden statt einer Internetverbindung für die letzten Meter vom Benutzergerät zum Ladegerät Bluetooth verwenden. Das bedeutete allerdings auch, dass wir jeden einzelnen Bestandteil von Grund auf neu entwickeln mussten. Nur so könnten wir ein Produkt anbieten, das von Tag Eins nutzungsbereit wäre. Unsere Berater:innen und Investor:innen waren von der Idee schockiert bis abweisend: “Konzentriert euch auf SaaS”, “findet einfach eure Nische”, “spielt besser innerhalb des Ökosystems” und “das sieht viel zu kapitalintensiv aus – vermeidet das!”
Doch da setzte unsere Kühnheit, Sturheit und das Bedürfnis, ihnen allen das Gegenteil zu beweisen, wirklich ein: Prove them wrong. Wir wollten nicht abermals eine leicht angepasste Kopie eines bereits existierenden Produkts bauen. Stattdessen wollten wir alles riskieren, um etwas wirklich Neues und Besseres zu entwickeln. Wir beschlossen also, uns ganz auf die Konnektivität in Tiefgaragen und Umgebungen ohne Internetverbindung zu konzentrieren.
Es war diese kühne Entscheidung, die uns letztendlich einen Platz im renommierten Y-Combinator-Programm einbrachte. Der Partner, der unsere Bewerbung schließlich aufnahm, war von unserer Idee, ein Gerät zu entwickeln, das vom Internet losgelöst agiert, so überrascht, dass er uns zu einem zweiten Interviewtermin einlud. Er musste einfach besser verstehen, warum. In seinen eigenen Worten: “Ich finanziere seit 10 Jahren Unternehmen, die Geräte mit dem Internet verbinden, und jetzt soll ich euch finanzieren, damit ihr EV-Ladegeräte vom Internet abkoppelt?”. Die Teilnahme am Y-Combinator-Programm trug maßgeblich dazu bei, dass wir Anfang 2022 eine Seed-Finanzierungsrunde von einem der weltweit führenden Investoren, BMW i Ventures, bekamen.
Die nächste Runde der Skeptiker
Doch die Zweifel hielten auch nach der Finanzierung durch einen weltbekannten Investor an – dieses Mal kamen sie von Kund:innen. Inzwischen wussten wir, dass wir Zweifelnde am besten überzeugen können, indem wir auch ihnen das Gegenteil beweisen. Prove them wrong, too.
Also entschlossen wir uns, unsere Technologie an die Kunden unserer Kunden zu verkaufen: an Immobilienentwickler und -betreiber. Und was ein unglaubliches Glück, dass wir uns dazu entschieden haben. Denn danach ging unser Geschäft plötzlich ab wie eine Rakete.
Allen Widrigkeiten zum Trotz
Wir haben es geschafft, ein Unternehmen aufzubauen, das ein klares Ziel verfolgt: Die Demokratisierung von E-Ladestationen für Nutzer:innen auf der ganzen Welt, durch den Einsatz unserer revolutionären SecureCharge-Technologie. Mit nur 12 Mitarbeitenden haben wir Ladegeräte und Retrofit-Hardware, eine mobile App und Backend-Tools entwickelt, mit der ein Unternehmen im Bereich EV-Charging betrieben werden kann. Hinzu kommen beliebig kombinierbare Whitelabel-Hardware- und -Software-Kombinationen sowie etliche ergänzende Technologien.
Zu unseren Kunden zählen inzwischen große Energieversorger in den USA, eines der größten Immobilienunternehmen in Deutschland und wir haben langfristige, exklusive Partnerschaften mit großen Vermögensverwaltern wie der MEAG abgeschlossen. Erst kürzlich hat sich Humax, ein südkoreanisches Unternehmen, das vor seinem europäischen Markteintritt steht, dazu verpflichtet, 100 Prozent seiner Hardware für den gesamteuropäischen Markt über unsere Plattform laufen zu lassen, und gemeinsam mit uns eine neue Generation innovativer, bis zu 50% kostengünstigerer eichrechtskonformer AC-Ladehardware zu entwickeln.
Der Weg nach vorn
Nach vier Jahren sind wir auf unserem Weg, der führende Anbieter für das integrierte, alltagstaugliche Laden von Elektrofahrzeugen zu werden, ein gutes Stück weiter gekommen. Rückblickend können wir nun darüber reflektieren, was gut funktioniert hat und was nicht, und welchen Rat wir anderen auf der Gründungsreise mitgeben würden.
- Prove Them Wrong: Glaube an deine einzigartige Vision und lasse dich von deiner Vision leiten – egal, was die anderen denken.
- Überzeugung: Deine starke Vision wird Investorinnen, Berater und erste Mitarbeiter:innen anziehen. Das sind die Personen, die dir in den schwersten Phasen helfen werden, durchzuhalten. Durch Überzeugungskraft gewinnst du auch deine ersten Kunden: genau deshalb sind die allerbesten Vertriebler am Anfang meist die Gründer selbst.
- Widerstandsfähigkeit: Behalte deine Überzeugung bei, auch wenn du auf Widerstand stößt. Es erfordert unglaubliche Resilienz, jahrelang an deiner Überzeugung festzuhalten – vor allem, wenn Skeptiker dich stets des Gegenteils überzeugen wollen. Bleibe dennoch hartnäckig dabei.
- Aufgeschlossenheit: Schotte dich nicht ab und verschließe dich nicht. Bringe stattdessen deine Überzeugung in Einklang mit Offenheit für gute Ratschläge, und umgebe dich mit klugen Menschen, die sich nicht davor scheuen, dir die Wahrheit zu sagen.
Die meisten Kunden und Investoren hielten unsere anfängliche Idee für ein Hirngespinst. Doch wir haben es allen Widerständen zum Trotz geschafft, ein Unternehmen mit einer einzigartigen Kultur und einer patentierten Technologie aufzubauen, durch die das Laden von Elektrofahrzeugen endlich wirklich zugänglich und zuverlässig wird.
Mein Rat an alle Gründerinnen und Gründer, die vor ähnlichen Herausforderungen und Unsicherheiten stehen und gegen die Skeptiker ankämpfen müssen, ist einfach: Wenn du weißt, was du tust, und davon überzeugt bist, dass deine Technologie wirklich transformativ sein wird, mach einfach weiter. Am Ende wird es sich lohnen.
Über den Autor
Chris Carde ist CEO & Co-Founder von HeyCharge
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