#Interview
“Die Abstimmung über verschiedene Zeitzonen hinweg ist oftmals herausfordernd”
Das Münchner Startup Retorio, das 2018 von Christoph Hohenberger und Patrick Oehler gegründet wurde, entwickelt eine Software für die Bewerberauswahl. Mit dieser KI-basierten Video-Recruiting Software sollen Firmen einen besseren Eindruck über den Charakter der Bewerber bekommen können. Der Londoner Geldgeber Basinghall Partners, die Altinvestoren und ein neuer privater Geldgeber, der nicht genannt wurde, investierten kürzlich eine siebenstellige Summe in das Spin-off der Technischen Universität München.
Im Interview mit deutsche-startups.de spricht Retorio-Gründer Oehler über simple Videoszenarien, hochkomplexe Technologien und unterschiedliche Kulturen.
Wie würdest Du Deiner Großmutter Retorio erklären?
Unternehmen sind nur dann erfolgreich, wenn Sie Mitarbeiter finden, die sich mit der Kultur und den Aufgaben des Unternehmens identifizieren. Lebensläufe und Bewerbungsschreiben liefern leider sehr wenige Erkenntnisse darüber, welche Persönlichkeit ein Bewerber hat und wie gut er ins bestehende Team passt. Bewerbungsgespräche hingegen sind zeitaufwändig und teuer. Daraus resultiert oft, dass Entscheidungen schnell getroffen werden, was wiederum dazu führt, dass die Motivation und Erwartungshaltung beider Seiten nicht erfüllt wird. Aus dem Gedanken heraus sicherzustellen, dass Bewerber und Firmen bestmöglich zusammenfinden, haben wir Retorio entwickelt. Retorio ist eine Technologie, die aus hunderttausenden von Videos gelernt hat, Menschen vorurteilsfrei und zuverlässig einzuschätzen. Immer mehr Firmen setzen diese Technologie ein, um Einstellungen und Trainings effektiver zu gestalten. Im Prinzip ist es ganz einfach. Bewerber und Mitarbeiter reagieren per Video auf simulierte Videoszenarien. Retorio schätzt innerhalb weniger Momente vollautomatisiert ein, welche Persönlichkeit und welches Verhalten im Video zum Ausdruck gebracht wird. Hierfür werden Sprache, Mimik, Gestik und Stimme ausgewertet und anhand psychologisch fundierter Modelle interpretiert. Die Ergebnisse werden mit Stellen- und Kulturanforderungen der jeweiligen Firma abgeglichen. Nach Einstellung kann der Bewerber mittels Retorio seine individuellen Schwächen identifizieren und weiterentwickeln. Retorios Kunden können somit Stellen um bis zu 70 % schneller besetzen und Mitarbeiter deutlich schneller einbinden.
Hat sich das Konzept seit dem Start irgendwie verändert?
Ursprünglich wollten wir unsere künstliche Intelligenz vor allem für Kommunikationstrainings einsetzen, zum Beispiel um anderen Doktoranden und Studenten dabei zu helfen, besser zu präsentieren. Schließlich ist unsere Technologie in der Lage, sehr zuverlässig zu bestimmen, wie Mitmenschen eine Person und ihr Verhalten wahrnehmen werden. Unsere ersten Kunden setzten Retorio jedoch vor allem in Einstellungsverfahren ein, um die Softskills und die Persönlichkeit von Bewerbern möglichst früh im Bewerbungsprozess anhand von Videobewerbungen zu erkennen. Insbesondere seit Beginn der Coronakrise sind Videointerviews für Personalabteilungen unverzichtbar geworden, was unser Wachstum sehr begünstigte. Schnell zeigte sich jedoch, dass viele Kunden gar nicht so genau wussten, was für Eigenschaften sie sich von Bewerbern wünschten. Sie fingen somit an, Retorios Analysen auch intern einzusetzen, um herauszufinden, welche Verhaltenseigenschaften die bestehende Belegschaft – und somit das Unternehmen – besonders machen. Die dabei gewonnen Daten und Erkenntnisse werden anschließend in Auswahlprozesse und in Trainingsprogramme übertragen, wo man nun deutlich objektivere und schnellere Entscheidungen treffen kann.
Die Corona-Krise traf die Startup-Szene zuletzt hart. Wie habt ihr die Auswirkungen gespürt?
Wir haben tendenziell eher profitiert. Zwar stellten einige unserer Bestandskunden weniger Mitarbeiter ein, jedoch konnten wir viele neue Kunden aus schnell wachsenden Industrien gewinnen, für die Videointerviews in der Krise unverzichtbar wurden. Gleichzeitig zeigte sich ein enormer Bedarf für digitale Assessments und Trainingsprogramme, die konventionelle Lösungen ergänzen und ersetzen. Retorio ist einzigartig darin, dass Mitarbeiter von zu Hause aus die Wahrnehmung ihrer Kunden oder Kollegen simulieren können. So entwickelten wir mit einem unserer Großkunden – ein deutscher Automobilkonzern – zusammen ein KI-basiertes Vertriebs- und Führungstraining für deren Mitarbeiter in den USA, England und Deutschland. Das Wachstum wiederum verhalf uns zu einer größeren Finanzierungsrunde, an der sich neben institutionellen und privaten Investoren auch das Startup-Shield Bayern beteiligte.
Wie ist überhaupt die Idee zu Retorio entstanden?
Die Idee entstand im Rahmen unserer Lehr- und Forschungsaktivität als Doktoranden an der TU München. Wir arbeiteten dort zusammen am Lehrstuhl für Strategie und Organisation. Im Rahmen einer gemeinsam gehaltenen Vorlesung kam die Idee auf, Verhalten anhand von Videodaten zu quantifizieren und somit skalierbar messbar zu machen. Somit machten wir uns an die Arbeit und entwickelten eigene, wissenschaftlich fundierte Deep-Learning Modelle. Wir waren selbst erstaunt, wie schnell unsere Modelle sich verbesserten.
Wie genau funktioniert eigentlich euer Geschäftsmodell?
Wir verkaufen den Zugang zu unserer KI-Plattform auf Abo-Basis an Unternehmenskunden. Weil sich der Onboarding-Aufwand in Grenzen hält, können wir mit unserer unkomplizierten Lösung sowohl kleinere und mittelständische Unternehmen als auch globale Konzerne bedienen. Unsere Kunden füttern uns viele wertvolle Daten zurück, aus denen unsere KI lernen kann.
Wie hat sich Retorio seit der Gründung entwickelt?
Rasant! Wir befinden uns im Wachstum und bedienen inzwischen Kunden aus der EU, UK, USA, Indien, und den USA. Unsere Umsätze haben sich dieses Jahr ca. verachtfacht. Zum Glück profitieren wir beim Einstellen neuer Mitarbeiter von unserer eigenen Technologie und konnten somit ein großartiges Team aufbauen.
Nun aber einmal Butter bei die Fische: Wie groß ist Retorio inzwischen?
Das ist schwer zu sagen, unsere Zahlen ändern sich täglich. Wir haben inzwischen circa 20 Mitarbeiter mit zehn verschiedenen Nationalitäten und stellen derzeit weitere Mitarbeiter insbesondere in der Entwicklung und im Vertrieb ein.
Blicke bitte einmal zurück: Was ist in den vergangenen Jahren so richtig schief gegangen?
Wir verfolgen mit Retorio ein sehr wagemutiges Konzept, in dem wir eine völlig neuartige und hochkomplexe Technologie von Anfang an global vertreiben. Die Abstimmung mit unseren Kunden über verschiedene Zeitzonen hinweg ist oftmals herausfordernd. Spätestens seit Corona macht es im Alltag aber keinen großen Unterschied mehr, ob ein Ansprechpartner in Bangalore oder um die Ecke wohnt, solange sprachliche Barrieren überwunden werden können. Hierbei hilft uns unser internationales Team.
Und wo habt Ihr bisher alles richtig gemacht?
Wir haben unsere Stärken und Schwächen früh erkannt und erfahrene Mitarbeiter und Investoren ins Boot geholt. Unser Ansatz, unser Produkt sofort global zu vertreiben, zahlt sich zunehmend aus. Dieser Weg ist zwar zu Beginn für ein junges Unternehmen sehr anstrengend, wir haben jedoch inzwischen den größten gemeinsamen Nenner zwischen unseren verschiedenen Kunden identifiziert und können somit in Zukunft deutlich schneller wachsen. Unser Mantra ist simpel: Wenn etwas trotz unterschiedlicher Kulturen sowohl in Deutschland als auch in Indien funktioniert, dann funktioniert es wahrscheinlich auch in der Türkei oder in Spanien.
Wo steht Retorio in einem Jahr?
Ziel ist es, unsere Umsätze erneut zu verachtfachen. Wachstum ist für uns entscheidend, denn unsere KI lernt aus unseren Kundendaten. Mit einer wachsenden Kundschaft wird die KI immer mehr menschliche Eigenschaften und Fähigkeiten erkennen können. Wir möchten uns zunehmend in den Alltag unser Nutzer integrieren. Unsere KI soll sich zu einem stets ehrlichen und fairen Mentor entwickeln, der Mitarbeitern und Recruitern dabei hilft, bessere Entscheidungen zu treffen. Übrigens, unter www.retorio.com kann sich jeder Besucher von unserer KI gratis auswerten lassen!
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