#Gastbeitrag
Digitale Gesundheitsanwendungen – Wie Startups die wichtigsten Hürden überwinden können
Impfkalender, Symptomtagebücher und sogar konkrete Therapieanwendungen: Die Auswahl an digitalen Medizinprodukten, die von Krankenkassen im Rahmen des Digitale-Versorgung-Gesetzes (DVG) erstattet werden – sogenannte digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) – wächst rasant. Die häufig auch als „Apps auf Rezept“ bezeichneten DiGA stellen für Start-ups attraktive Geschäftsmodelle dar. Das liegt unter anderem daran, dass die Anwendungen in Deutschland seit dem Oktober dieses Jahres als reguläre Leistung der gesetzlichen Krankenversicherungen gelten und entsprechend abgerechnet und erstattet werden können. Anwendung, die das Prüfverfahren beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) erfolgreich durchlaufen, sind potenziell für 73 Millionen GKV-Versicherte zugänglich.
Als Gründerin eines Health Start-ups habe ich vor einigen Jahren gemeinsam mit dem Team eine App als Therapiebegleiter bei Essstörungen entwickelt. Aus eigener Erfahrung weiß ich daher selbst wie zeit- und kostenaufwändig es war, mit einzelnen Kassen Selektivverträge auszuhandeln. Die neugeschaffene Möglichkeit für erstattungsfähige DiGA hat für mich das Potenzial hier zum „Gamechanger” zu werden.
Von der Idee bis zur Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis und damit in die Erstattungsfähigkeit über Krankenkassen ist es jedoch ein langer Weg, auf dem sich für Start-ups viele Herausforderungen ergeben. Durch meine Arbeit als Leiterin des Pfizer Healthcare Hub Berlin und meiner eigenen Gründungserfahrung weiß ich aus vielen gemeinsamen Projekten, dass Start-ups an vielen Stellen von der Zusammenarbeit mit etablierten Partnern profitieren können – und vice versa.
Evidenz in Studien nachweisen
Um von ÄrztInnen verschrieben werden zu können, müssen digitale Gesundheitsanwendungen in das DiGA-Verzeichnis aufgenommen werden. Erst dann befinden sie sich in der Erstattungsfähigkeit und können über die Krankenkassen abgerechnet werden. Eine Hürde, die als Qualitätsprüfung für das eigene Produkt angesehen werden kann.
Essentiell für die endgültige Aufnahme in das Verzeichnis ist der Evidenznachweis. Hier ist es nicht damit getan, einzelne „zufriedene Kunden” aufzuführen, sondern der medizinische Nutzen oder eine Verfahrensverbesserung durch die Anwendung muss in großangelegten und kostenintensiven Studien nachgewiesen werden. Für viele Start-ups bedeutet dies Neuland. Häufig begehen diese den Aufnahmeprozess zum ersten Mal und können nicht auf bestehende Erfahrungswerte, beispielsweise aus eigenen Zulassungsstudien, zurückgreifen. Hier ergibt sich aus meiner Sicht die ideale Möglichkeit auf bestehendes Wissen zurückzugreifen, indem die GründerInnen mit etablierten Pharmaunternehmen kooperieren. Diese begleiten in der Regel jährlich mehrere Zulassungsprozesse ihrer Medikamente oder anderer medizinischer Lösungen und haben über Jahre Wissen aufgebaut. Von diesem können Start-ups in Partnerschaften auf ihrem Weg in die Erstattungsfähigkeit profitieren. Gleichzeitig bekommen etablierte Partner Einblicke in den Aufbau und die Therapieerfolge von digitalen Lösungen für PatientInnen und können das eigene Portfolio ergänzen.
Markenaufbau: Sichtbarkeit und Vertrauen bei ÄrztInnen schaffen
Mit den DiGA eröffnet sich für viele Start-ups eine völlig neue, in Teilen für sie noch wenig erschlossene, Zielgruppe: die ÄrztInnen. Als Verschreiber werden sie wesentlich über den Erfolg von DiGA mitbestimmen, indem sie die digitalen Lösungen für ihre PatientInnen zugänglich machen. Entscheidend wird daher sein, Sichtbarkeit und Vertrauen innerhalb der Ärzteschaft aufzubauen. ”Apps auf Rezept” sind auch für ÄrztInnen ein in weiten Teilen völlig neuer Ansatz, der bisher wenig Anwendung gefunden hat. Eine Studie der Krankenkasse Barmer zeigt, dass die Meinungen innerhalb der Ärzteschaft noch geteilt sind: 42 Prozent der befragten ÄrztInnen finden es „gut“ oder „sehr gut“, dass sie digitale Gesundheitsanwendungen verordnen können, 48 Prozent sind dagegen noch unentschieden. Ein Grund dafür könnten mangelnde Informationen und Erfahrungen mit DiGA sein.
Nach erfolgreicher Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis wird es daher für die Hersteller von großer Bedeutung sein, möglichst rasch eine Markenbekanntheit bei ÄrztInnen aufzubauen. Wem dies gelingt und wer gleichzeitig den Mehrwert des eigenen Produktes für die PatientInnen vermittelt, macht einen entscheidenden Schritt, um Glaubwürdigkeit bei den ÄrztInnen zu erlangen. Offene und kundenorientierte Kommunikation auf den eigenen Kanälen und Kampagnen im Umfeld von ÄrztInnen sind ein sinnvolles Investment – und gerade ersteres eine der großen Stärken von jungen Unternehmen. Vor allem im Vertrieb von Medizinprodukten ist die Erfahrung im Multi-Channel-Marketing relevant für die Awareness bei den Verschreibern. Dies reicht von traditionellen Kanälen wie Telefon, Fax und dem regelmäßigen persönlichen Austausch bis hin zur Kommunikation über digitale Kanäle.
Dabei kann man vom gemeinsamen Auftreten nach Außen im Rahmen einer Partnerschaft mit einem bereits am Markt etablierten Unternehmen profitieren. Diese haben häufig bei der Zielgruppe über Jahre eine Glaubwürdigkeit aufgebaut, die sich im Idealfall auf das eigene Produkt überträgt.
Sales: Vertriebsnetzwerk auf- und ausbauen
Für den erfolgreichen Vertrieb von digitalen Gesundheitsanwendungen benötigen Start-ups ein umfassendes und breit angelegtes Vertriebsnetzwerk. Der Zugang zu Ärztevereinigungen, Verbänden und Patientenorganisationen sind Strukturen, die oftmals unter großem Aufwand zunächst aufgebaut werden müssen. Der Gesundheitsbereich ist enorm komplex, da er fragmentiert, an vielen Stellen schwer zugänglich und gleichzeitig stark reguliert ist. Aus meiner eigenen Gründungserfahrung weiß ich, dass gerade hier strategische Partnerschaften enorm helfen können. Sie ermöglichen Zugänge in bestehende Netzwerke und Strukturen. Darüber hinaus verfügen vor allem Pharma-Unternehmen in der Regel über einen flächendeckenden Außendienst. Dessen MitarbeiterInnen haben über die Jahre gute und stabile Beziehungen zu relevanten Kundengruppen – insbesondere der Ärzteschaft – aufgebaut, die sie für den Vertrieb von DiGA nutzen können.
Direktmarketing: Die PatientInnen überzeugen
Immer mehr PatientInnen erkennen das Potential von digitalen Anwendungen für ihr Leben mit einer Erkrankung und integrieren diese bereits in ihren Alltag. Dieser Trend bekräftigt sich auch in einer Bitkom-Umfrage vom Sommer 2020 unter knapp 1.200 Personen über 16 Jahren: Mehr als die Hälfte der Befragten (59%) kann sich vorstellen, DiGA zu nutzen, ein Drittel will es sogar auf jeden Fall tun. Gleichzeitig sind Viele noch nicht mit dem Zugang zu Gesundheitsanwendungen und deren Möglichkeiten, sie im Rahmen einer Diagnose oder Therapie zu unterstützen, vertraut.
Hier gilt es weitere digitale Aufklärung in der Bevölkerung zu leisten. Und dies ist häufig ein weiteres Plus von jungen Unternehmen: Start-ups sind in der Regel nah an den NutzerInnen und haben ein tiefes Verständnis für deren Bedürfnisse. Der user-zentrierte Ansatz, der sich als Standard im Marketing junger Digitalunternehmen durchgesetzt hat, kann zum Wettbewerbsvorteil im Gesundheitsmarkt werden. Denn neben der Verschreibung durch ÄrztInnen gibt es noch einen zweiten Weg, wie DiGA erstattet werden können: Bei einer vorliegenden Diagnose können sich PatientInnen direkt an ihre Krankenkasse wenden. So muss die Ärztin oder der Arzt nicht mehr in den Erstattungsprozess mit einbezogen werden. Eine Möglichkeit, die das direkte Patientenmarketing umso attraktiver macht.
Von diesem nutzerzentrierten Mindset der jungen Unternehmen können zudem etablierte Pharmahersteller profitieren, indem dieser Ansatz noch stärkeren Einzug in das eigene Unternehmen hält. Die Kombination aus den neuen Strategien der GründerInnen und dem Wissen von seit Jahren mit PatientInnen kommunizierenden Unternehmen, bietet ein enormes Potenzial. Gelingt es PatientInnen noch stärker in die Entscheidung über Therapiemöglichkeiten zu involvieren, entstehen Lösungen, die einen enormen Mehrwert für alle Beteiligten schaffen – und die PatientInnen in den Mittelpunkt rücken.
Staffing: Ressourcen für Customer Support bündeln
Ist der Aufnahmeprozess erfolgreich gemeistert und die DiGA im Verzeichnis gelistet, ist ein wichtiger Meilenstein erreicht. Sobald die Anwendung in höherer Zahl verschrieben und heruntergeladen wird, schließt sich aber auch ein erhöhter Bedarf an Customer Support an: Von aktuellen FAQs auf der Website bis zu einer dauerhaft erreichbaren Service-Hotline für Anfragen von KundInnen, ÄrztInnen oder Krankenkassen – viele der Stakeholder suchen den Kontakt zum Hersteller. Für diesen „Ansturm” müssen Start-ups gewappnet sein und entsprechende Ressourcen für den Customer Support bereitstellen. Auch an dieser Stelle kann es sicherlich hilfreich sein, personelle Ressourcen und die Erfahrungen von Start-ups mit Partnern zu bündeln, die bereits Erfahrungen mit dem Customer Support im Gesundheitssektor haben. Mit Unternehmen zusammenzuarbeiten, die bestehende und oftmals schon feste Strukturen und Prozesse für die Beantwortung von Anfragen etabliert haben, hilft dies effizient aufzusetzen und schont so Ressourcen für andere Aufgaben. Gleichzeitig kann trotzdem eine umfassende Betreuung der Anspruchsgruppen gewährleistet und eine positive Customer Experience mit der DiGA garantiert werden.
Ein völlig neuer Markt mit enormen Potenzialen – für alle Beteiligten
Was wir in den letzten Monaten erlebt haben, ist die Öffnung eines völlig neuen Wachstumsfeldes für Start-ups im Healthcare Bereich. Die Möglichkeit der Erstattungsfähigkeit von DiGA bietet nicht nur Chancen für einzelne Unternehmen, sondern auch für den gesamten Gesundheitsstandort Deutschland zu einem noch attraktiveren Markt für junge Digitalunternehmen weltweit zu werden. Die Anerkennung von digitalen Gesundheitsanwendungen ist daher ein Meilenstein für Unternehmen und PatientInnen gleichermaßen. So leisten DiGA einen wertvollen Beitrag für PatientInnen, indem sie bestehende Lösungen sinnvoll ergänzen oder neue Anwendungsfelder eröffnen. Entscheidend wird es dabei sein, die regulatorischen Hürden dieser hochkomplexen Branche zu meistern. Dabei sind aus meiner Sicht an vielen Stellen strategische Partnerschaften eine für beide Seiten gewinnbringende Option. Start-ups können auf bestehende Erfahrungen und Strukturen aufbauen und Pharmaunternehmen von frischen, patientenzentrierten Lösungen profitieren.
Über die Autorin
Ekaterina Alipiev ist Leiterin des Pfizer Healthcare Hub Berlin. Dort arbeitet ein multidisziplinäres Team gemeinsam mit Start-ups an digitalen Lösungen, die eine sinnvolle Ergänzung zu bereits vorhandenen Therapien und Impfstoffen darstellen. Dabei bringt sie selbst Gründererfahrung mit: 2013 hat sie das E-Health Start-up „Jourvie” gegründet, um Menschen mit Essstörungen mithilfe einer App auf ihrem Weg zur Genesung zu unterstützen.
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