Von Alexander
Dienstag, 17. März 2020

Über drei Wissenschaftler, die Metalle verbiegen

Der Sitz von Ingpuls ist Ruhrpott pur. Das Unternehmen residiert in einer früheren Instandhaltungswerkstatt der Zeche Robert Müser. Unter den Angestellten sind etliche Fachkräfte, die bei Opel gearbeitet haben, bevor der Konzern sein Werk in Bochum dichtgemacht hat.

Der Zufall führte Christian Großmann, André Kortmann und Burkhard Maaß, Gründer von Ingpuls, zusammen. Sie trafen sich erstmals im Oktober 2002 an der Bochumer Ruhr-Uni bei einem Mathe-Vorkurs kurz vor dem Start ihres Maschinenbau-Studiums. Ein Glücksfall für die heutigen Ruhrpreneure. Denn in einem der vielen Fußballstadien im Revier, da hätten die drei damals wie heute kaum zueinandergefunden, zumindest nicht in einem Fanblock. Großmann, in Mülheim an der Ruhr geboren, ist BVB-Anhänger. Der gebürtige Gelsenkirchener Kortmann, der in Buer wohnt, ist selbstredend Schalke-Fan. Das Herz von Mitstreiter Maaß wiederum, der zwar in Winterberg geboren wurde, aber in Bochum rund um die Ruhr-Uni aufgewachsen ist, schlägt für den VfL Bochum. „Wir vereinen damit die maximale Inkompatibilität, die im Ruhrgebiet möglich ist“, findet Großmann. In Bezug auf die Schalke-Leidenschaft seines Mitgründers spricht er gerne auch mal von einer „absoluten Vollkatastrophe“. Bierernst ist dieser Spruch aber nicht gemeint. Der Dortmund-Fan findet nämlich auch, dass diese unterschiedlichen Leidenschaften viel über das Gründerteam aussagen: „Wir können uns zusammenreißen.“

Und zusammengerissen haben sich die Junggründer bereits während ihres Studiums. Großmann, Jahrgang 1982, bringt es in wenigen Worten auf den Punkt: „Wir haben das Studium gemeinsam gerockt.“ Der Ingpuls-Macher, wohnhaft in Wattenscheid, beschreibt sich und seine Mitstreiter, beide Jahrgang 1981, als „fleißige Studenten“ und verweist zu guter Letzt noch bescheiden auf die „guten Noten“, die man am Ende vorzeigen konnte. Schon während des Studiums zeichneten sich die Ruhrgebietler durch großes eigenes Engagement aus. So nutzten sie alle Möglichkeiten, die es damals gab, bauten sich ihre eigene technische Infrastruktur auf, um Mathe-Zettel schnell und einfach über digitale Foren tauschen zu können. Heute ein banaler Vorgang, damals noch eher eine Sache für Nerds. „So konnten wir unser Studium super effizient bestreiten“, erinnert sich Großmann, den man getrost die „Rampensau“ von Ingpuls nennen darf.

Nach ihrem Studium blieben die drei an der Ruhr-Uni und stemmten gemeinsam ihre Promotionen. Bereits zuvor hatten die Materialwissenschaftler ihr Herz für sogenannte
Formgedächtnislegierungen, kurz FGL, entdeckt. Ein Professor verbog damals vor ihren Augen eine Büroklammer, erhitzte sie, und wie durch Zauberhand ging sie wieder in ihre ursprüngliche Form zurück. Genau um solche Mechanismen geht es heute bei Ingpuls. Die Bochumer entwickelten diese Technologie umfangreich weiter, machten sie fit für neue Anwendungsfälle. Auch ein Einsatz in der digitalen Welt ist dabei möglich. Die smarten Drähte lassen sich theoretisch auch auslesen. So sei es möglich nachzuverfolgen, wie oft bestimmte Funktionen in einer Waschmaschine oder einer Heizung überhaupt genutzt werden. Das 2009 gegründete Ingpuls ist somit eine moderne, eine smarte Form der Metallindustrie, einer Industrie, die eigentlich nach Vergangenheit klingt. IndustialTech heißt dieses spannende Segment in der Startup-Szene.

„Wir schmelzen, schmieden, ziehen Drähte, und wir verarbeiten das Material zu einer Funktionskomponente, die in Hightech-Produkten zum Einsatz kommt“, erklärt Großmann. Das kleine Unternehmen beliefert – als Teil der globalen Lieferkette – zum Beispiel den Autokonzern Daimler, der die Bauteile aus dem Revier in sogenannten Fluidventilen, die den Kühlkreislauf in allen neueren Benzinmotoren des Konzerns regulieren, einsetzt. Aber auch in Haus- und Energiegeräten sowie in Satelliten, konkret im Heinrich-Hertz-Satellit, der 2021 abheben soll, steckt die Technik aus Bochum.

Der Sitz der Jungfirma mit derzeit rund 50 Mitarbeitern ist Ruhrpott pur. Ingpuls residiert in einer früheren Instandhaltungswerkstatt der Zeche Robert Müser in Bochum-Werne. Unter den Angestellten sind etliche Fachkräfte, die bei Opel gearbeitet haben, bevor der Konzern sein Werk in Bochum dichtgemacht hat. Ingpuls ist somit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem. Pro Jahr produzieren die Bochumer derzeit einige Tonnen ihres smarten Materials. Das klingt nicht nach viel, die Bauteile sind aber auch klein – teilweise sehr klein. In den ersten Jahren, als Ingpuls noch eher eine Manufaktur als ein Industrie-Unternehmen war, produzierten sie lediglich um die 50 Kilo pro Jahr als Musterteile für rund 15 Projekte. Und in den ersten drei Jahren war Ingpuls ein Teilzeit-Unternehmen. Erst seit 2012, nach Abschluss ihrer Promotionen, sind die Gründer selbst Vollzeit für ihre Firma tätig.

Der lange Weg zum funktionierenden Unternehmen und vor allem zum Lieferanten von Großkonzernen war für das Ingpuls-Gründertrio, die drei sind verheiratete Familienväter, voller Missgeschicke und Pannen. Aber immer wieder ergaben sich auch Chancen. Dass sie einmal gemeinsam ein Unternehmen aufbauen wollten, war den dreien lange vor der eigentlichen Gründung klar. Eine Strategie dafür lag bereits während ihrer Promotionsphase bereit, ein Businessplan war längst geschrieben. „Eigentlich wollten wir ein bisschen später gründen, mussten die Gründung aber vorziehen“, sagt Großmann, und es klingt fast so, als ob er es bedauere, dass sie von ihrem Fahrplan abweichen mussten. Auf einer Gründungsmesse waren sie von einem potenziellen Auftraggeber angesprochen worden. Sie ergriffen die Chance und zogen ihre Gründung – dank erteilter Nebentätigkeitserlaubnis der vorgesetzten Professoren an der Uni – kurzerhand vor.

Von diesem Zeitpunkt an arbeitete das Trio tagsüber an der Uni und abends bzw. nachts – teilweise am Küchentisch – an Ingpuls. 2010 folgte das erste Büro – am Technologiezentrum Ruhr. Ein Jahr später war es schon wieder zu klein – und an und für sich für das Minimetall-Unternehmen nicht geeignet. Denn nachts, wenn alle anderen Mieter fort waren, frästen die Ingpulser äußerst geräuschvoll an ihren Prototypen. Was Spuren hinterließ: Beim Auszug mussten sie dutzende Späne mit einer Pinzette aus dem Teppich ziehen. „Sonst hätten wir ja Stress gekriegt“, erzählt Großmann. Danach landete die Jungfirma an ihrem jetzigen Standort. Heute verteilen sich Büros und Produktionsstätten auf mehrere Gebäude. Die Produktion allein macht sich auf rund 1200 Quadratmetern breit. In den kommenden Jahren soll diese Fläche auf rund 5000 Quadratmeter steigen. Die Gründer sicherten sich hierzu bereits ein Grundstück, 20000 Quadratmeter groß, in Bochum-Werne.

Zu den spannendsten Kapiteln der Ingpuls-Geschichte gehört der Start der ersten Serienproduktion. 2014 flatterte die Anfrage zum ersten Großauftrag ins Haus. Dies war den drei Gründern zu diesem Zeitpunkt aber überhaupt nicht klar. Ein Unternehmen aus Süddeutschland, ein Fluidventil-Hersteller, brauchte damals für ein nicht näher beschriebenes Projekt dringend eine Feder aus dem smarten Material der Westfalen. „Mehr wussten wir zunächst nicht“, erzählt Großmann. Ingpuls, damals gerade einmal eine Mannschaft mit sieben Leuten, entwickelte die besagte Feder, schickte sie zum Auftraggeber, und der testete das Produkt und fand es gut. Erst dann wurde klar, dass es sich um einen Auftrag für den am Ende der Kette stehenden Autokonzern Daimler handelte, und ganz plötzlich stand ein Auftrag über „ein paar Millionen Teile“ im Raum. – Was Ingpuls damals noch nicht stemmen konnte. Die drei Macher hatten sich aber auf solch einen Fall, also die Industrialisierung und die Serienproduktion ihres Produkts, bereits vorbereitet. Es folgten Gespräche mit Banken und Preisverhandlungen. Schließlich lagen im September 2015 zahlreiche Verträge, unter anderem für eine Serienproduktion, auf dem Tisch der Junggründer.

Die Zahl der Mitarbeiter stieg in Folge auf über 20. Das ganze Team nahm nun die Serienproduktion in Angriff. Und die startete mit einer handfesten Katastrophe. Kurz vor dem Start gab eine der zuvor angeschafften Maschinen komplett den Geist auf. „Da standen wir nun mit dieser Riesenverpflichtung im Rücken“, erzählt Großmann ganz gelassen. Den gigantischen Kloß, den er damals im Hals hatte, kann man trotzdem noch heute spüren. „Wir mussten uns einmal kurz schütteln“, resümiert Großmann die damalige Situation kurz und knapp. Der Auftraggeber bekam unterdessen – wohl zu Recht – ernsthafte Zweifel, ob das unerfahrene Unternehmen die vereinbarten Stückzahlen überhaupt liefern könnte. Einmal pro Stunde mussten die Werkstoffhersteller von nun an die gefertigte Stückzahl telefonisch durchgeben. Bei einer Nichterfüllung der Vorgaben wäre es im übelsten Falle zu einem Bandstillstand in der Produktion gekommen. Mit das Schlimmste, was sich ein Autobauer vorstellen kann. „Mit allen Leuten, die wir mobilisieren konnten oder die einfach von alleine auf der Matte standen, haben wir den Ausfall der Maschine mit Handarbeit ausgeglichen“, blickt Mitgründer Maaß zurück, der im Unternehmen dafür bekannt ist, „Probleme, im Vorbeigehen zu lösen“. Die Probleme der ersten Serienproduktion konnte aber auch das „kreative Genie“ von Ingpuls nicht so leicht knacken. „Wir haben dann stündlich Mitarbeiter in einen ICE nach Stuttgart gesetzt, mit Teilen, die günstiger waren als das Ticket, nur damit das Band nicht angehalten werden musste.“ In Stuttgart wurden die Federn in die besagten Ventile verbaut und dann nach Bremen zur Montage in die Motoren geschafft.

Der große Notfallplan ging auf. Gleichzeitig bekamen die Bochumer die Serienproduktion in Gang, und im Oktober 2015 verließen 500 Teile die kleine Halle am Rande der Stadt. Im November waren es schon über 5000 und im Dezember dann mehr als 50000. „Von Ende November bis kurz vor Weihnachten haben wir 24 Stunden rund um die Uhr gearbeitet“, erzählt Großmann. Geschlafen wurde oftmals in der Produktion, und für das leibliche Wohl sorgte eine „rund um die Uhr Pizza-Versorgung“. In der Zeit vernichteten die Ruhrgebietler Energydrinks palettenweise. Dass am Ende alles dennoch geklappt hat, führt Großmann auf die „Mentalität im Ruhrgebiet“ zurück. Die „bedingungslose Hilfsbereitschaft“ verschlägt den Ingpuls-Machern noch heute ein klein wenig den Atem. Und der fast verzweifelte Kunde war am Ende auch zufrieden, zeigte sich im Nachgang zudem begeistert, wie die Bochumer unter Druck gearbeitet hatten. Was sich auch in mehreren Folge-Aufträgen ausdrückte. Einige davon haben eine Laufzeit bis ins Jahr 2030. Ingpuls kann somit inzwischen in etlichen Fällen sehr langfristig planen.

Auch wenn die Ingpuls-Gründer diese Geschichte aus der Anfangszeit heute teilweise mit einem Lächeln auf den Lippen erzählen, ist ihnen klar, dass dies alles auch ganz anders hätte ausgehen können. Dann würde es ihre Firma heute wohl kaum noch geben. Aus solchen Geschichten entstehen am Ende aber oftmals ganz große Unternehmen. Und genau dies ist das Ziel der Ruhrpreneure: Sie wollen aus Ingpuls „einen großen Tech-Konzern“ machen. So möchten die Bochumer, die aktuell Umsätze im mittleren einstelligen Millionenbereich erwirtschaften, in den kommenden Jahren zweistellige Millionenumsätze einfahren. Im Mittelpunkt dabei die Märkte Automobil und Hausgeräte. Alles Weitere soll später folgen.

Um diesen Weg fortzusetzen und vor allem auch um die Investitionen für dieses Wachstum stemmen zu können, haben die Metallmacher mit den Geschäftsführern des Familienunternehmens Federn Brand aus Anröchte, einer Gemeinde im Kreis Soest, inzwischen auch die passenden Geldgeber gefunden. Die Unternehmer investierten 2018 eine achtstellige Summe in Ingpuls und bekamen dafür eine Minderheitsbeteiligung. Klingt alles nach einem wohldurchdachten Plan. Und wenn es dann doch anders kommt, haben die Bochumer bereits mehrfach gezeigt, dass dies für sie auch kein Problem ist.

Ein Auszug aus dem großen Startup-Buch “Wann endlich grasen Einhörner an der Emscher“. #EmscherEinhörner

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Foto (oben): Ingpuls