Warum Osteuropa das neue Silicon Valley werden könnte
Lange Zeit galt das Silicon Valley als der Ort mit dem weltweit führenden und dynamischsten Tech-Ökosystem. Insbesondere für Programmierer und Entwickler galt die Bay Area in den letzten Jahrzehnten als “the place to be”. Kein Wunder, denn dort befinden sich nicht nur renommierte Unternehmen wie Facebook, Google und Co. sowie vielversprechende Start-ups, sondern auch namhafte Venture Capitalists (VC), die Milliarden von US-Dollar in vielversprechende Start-ups investieren und ihnen somit zu großem Wachstum verhelfen, die Unternehmen weiterverkaufen und das Kapital reinvestieren. Diese Bedingungen verhalfen der Metropolregion zu einem weltweit einmaligen Ruf, der bis heute anhält.
Europa hat einen großen Pool gut ausgebildeter Talente
Im Zeitalter der globalen Digitalisierung sind Innovation und Technologie jedoch nicht mehr nur an einen Standort gebunden. Längst verfügen auch andere Kontinente und Regionen über attraktive Standorte, die herausragende Talente und Wissen anziehen oder diese selbst ausbilden. Beispielsweise hat Europa in den vergangenen Jahren einen großen Sprung gemacht. So verfügt der Kontinent über einen großen Pool gut ausgebildeter Entwickler.
Aber auch das regulatorische Umfeld hat sich gewandelt und orientiert sich stärker an den Bedürfnissen von Start-ups und Tech-Entrepreneuren. Denn auch die Politiker wissen: Die Start-ups von heute sind der Mittelstand von morgen und diese gilt es entsprechend zu fördern und zu unterstützen.
Osteuropa bietet Tech-Unternehmen optimale Bedingungen
Inzwischen haben nicht nur die traditionellen Wirtschaftsmächte wie Deutschland, Großbritannien und Frankreich eine wachsende Tech-Gemeinschaft, sondern gerade auch Osteuropa hat attraktive Hotspots. Einige führende Unternehmen aus dem Westen bzw. dem Silicon Valley haben das Potenzial der dortigen Länder frühzeitig erkannt: Beispielsweise hat Amazon bereits im Jahre 2005 in der rumänischen Stadt Ia?i seine erste Forschungs- und Entwicklungsabteilung in Osteuropa errichtet. Ebenso hat Google die idealen Bedingungen erkannt und 2014 einen Campus in Warschau eröffnet – laut Dealroom.co ist die polnische Hauptstadt übrigens der größte Tech-Hub in Ostmitteleuropa, gemessen an den Finanzierungsrunden.
Und auch aus VC-Sicht spricht vieles für die osteuropäischen Länder und deren aufstrebende Start-ups. Etwa hat die gute Mathematikausbildung der ehemaligen Sowjetunion ein Umfeld geschaffen, in dem die digitale Transformation von heute gefördert wird: so leben in diesen Ländern viele sehr gut ausgebildete Mathematiker, Physiker und Informatiker. So habe Zentral-Osteuropa laut McKinsey den größten Talent-Pool im MINT-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik). Slowenien, Polen und Litauen sind dabei führend: auf 1.000 Einwohner kämen 20 MINT-Absolventen. Dass Polen dabei auch über die besten Entwickler verfügt, zeigt eine Auswertung der Tech-Plattform HackerRank. Ebenfalls unter den Top10 vertreten: Russland, Ungarn und die Tschechien.
Zudem stellt McKinsey fest, dass die Kluft zwischen den Geschlechtern bei den MINT-Absolventen in den osteuropäischen Ländern deutlich geringer ausfällt. Während in Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien und Großbritannien (EU Big 5) 2016 gerade einmal 33 Prozent Frauen in einem MINT-Fach ihren Abschluss machten, waren es in Bulgarien, Kroatien, Tschechien, Ungarn, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, der Slowakei und Slowenien (Digital Challenger) im gleichen Zeitraum immerhin 40 Prozent.
Auch spielen Zukunftsthemen in Osteuropa bereits eine große Rolle: Länder wie Polen, Ukraine, Estland, Weißrussland und Russland sind führend bei der Entwicklung von Künstlicher Intelligenz. Sie erhalten die meisten internationalen Zuschüsse, gewinnen Wettbewerbe und tätigen große Investitionen. Aber auch Themen wie Intelligent Data Analysis, Machine Learning, IoT, Marketing and Advertising und Computer Software sind in den osteuropäischen Ländern stark vertreten.
Darüber hinaus zeigen unser Dealflow aber auch eigene Erfahrungen, dass die Universitäten in den tschechischen Städten Prag und Brünn sich besonders mit Cyber Security und Spracherkennung befassen, während die akademischen Einrichtungen im slowakischen Bratislava und Egersee (Zalaegerszeg) ein umfassendes Know-how im Bereich des autonomen Fahrens besitzen. In den ukrainischen und russischen Großstädten Kiew und Lwiw bzw. Moskau und St. Petersburg beschäftigt sich die Forschung hingegen sehr mit der Blockchain-Technologie. In der Region befindet sich auch die Wiege dieser Technologie, weshalb sie dort allgemein auf große Akzeptanz trifft und sich viele Programmierer mit ihr beschäftigen.
Stärkere Wahrnehmung Osteuropas
Naheliegend stellt sich also die Frage, warum über die Fortschritte und das Wissen der osteuropäischen Länder in den genannten Themenfeldern hierzulande so wenig bekannt ist. Dies liegt größtenteils daran, dass die Forschungen der Universitäten nicht in dem Maße in akademischen Publikationen stattfinden wie etwa in Kontinentaleuropa oder den USA. Denn Osteuropa ist geschichtlich bedingt nicht so publikationsgetrieben wie der Westen. Jedoch sorgen die Erfolgsgeschichten von Start-ups wie UiPath oder PicsArt für eine stärkere Wahrnehmung der östlichen Länder Europas in der Tech- und Start-up-Szene – das gilt auch für Investoren aus den USA (und Kanada). Denn erst in 2017 und 2018 sind ihre Investments nennenswert: in diesen Jahren wurden von den genannten VCs 200 Millionen US-Dollar investiert. Zu den Investoren gehörten VCs wie Sequoia Capital, Insight Ventures und Draper Associates.
Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft
Was aus unserer Sicht außerdem für die Region spricht: Osteuropa verfügt über 1 Million Entwickler, von denen rund die Hälfte in Polen, Rumänien und Tschechien lebt. Und obwohl in Osteuropa gute Grundvoraussetzung herrschen, gibt es auch einen Haken: Osteuropa ist, anders als das Silicon Valley, kein einzelner großer Ballungsraum, sondern besteht aus über zehn verschiedenen, voneinander losgelösten Orten, an denen sich Start-ups angesiedelt haben. Im kalifornischen Schmelztiegel ist die Netzwerkdichte daher um ein Vielfaches höher, die Tech-Gemeinschaft trifft sich auf den gleichen Veranstaltungen und kennt sich untereinander. Eine derart starke Vernetzung gibt es in den osteuropäischen Ländern nicht, wo die Communities hauptsächlich regional sind.
Doch wie kann das vorhandene Potenzial dennoch so genutzt werden, dass osteuropäische Jungunternehmen entstehen, die die Chance haben, die globalen Player von morgen zu werden? Zunächst braucht einen noch besseren Marktzugang für ausländische Investoren. Diesen kann ein Vermittler ermöglichen, der über ein entsprechendes Netzwerk in Osteuropa verfügt und mit den jeweiligen Anlagementalitäten bestens vertraut ist.
Genau diese Lücke kann jedoch durch einen in Europa ansässigen Fonds geschlossen werden, der zusammen mit Silicon-Valley-Größen investiert, um gemeinsam aus dem Potenzial beider Kontinente zu schöpfen. Denn nur dank solcher Co-Investments, bei denen europäische und US-amerikanische VCs Seite an Seite agieren, erhalten vielversprechende osteuropäische Start-ups mit ihren talentierten Teams einen einfacheren Zugang zu globalen Märkten und langfristigem Wachstum.
Über den Autor
Der Österreicher Roman Scharf ist Co-Founder und Partner von capital300, einem europäischen Venture Capital Fonds (Series A) , der nicht nur mit Kapital sondern auch mit Know-how und Netzwerken disruptive Technologieunternehmen und ambitionierte Gründer unterstützt. Der Fonds wurde Anfang 2018 von Peter Lasinger und Roman Scharf gegründet, die beide bereits verschiedene erfolgreiche internationale Unternehmen aufgebaut, unterstützt und finanziert haben.
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