#Gastbeitrag
Holacracy! Hört sich ein bisschen an wie Hokuspokus
Hinter dem Begriff Holacracy, den Berater und Unternehmenslenker immer häufiger fallen lassen, verbirgt sich deutlich mehr als Zauberei. Wir haben haben bei uns von Anfang an konsequent auf die zugrunde liegende Systematik gesetzt. Der Kern: Keine Hierarchie der Hierarchie wegen, sondern funktional gestaltete Verantwortung und Autorität. Zu abstrakt? Ein typisches Beispiel sind Meetings. Statt endlosem Hin und Her folgt die Diskussion einem stringenten Schema. Am Anfang gewöhnungsbedürftig, aber dann zeitsparend und ergebnisfördernd.
Gähn. Wer kennt es nicht. Montagmorgen, interne Auftaktkonferenz der Arbeitswoche. Egal welches Thema, alles gleicht einer Frontalberieselung und zwischendurch artet die berufliche Zusammenkunft in eine Grundsatzdebatte aus. Marketing, Vertrieb, Entwicklung – der Big Boss leitet von einem Thema zum nächsten über und quetscht die jeweilig Verantwortlichen der Abteilungen aus. Alle anderen haben sich im Kopf längst ausgeklinkt und beamen sich gedanklich zurück ins Wochenende. Einige sind aber noch munter und werfen fast willkürlich das ein oder andere Argument in die Runde.
Häufige Probleme in Meetings:
- Introvertierte und extrovertierte Persönlichkeiten ziehen sich querbeet durch alle Bereiche, ganz unabhängig von der inhaltlichen Expertise des Aufgaben- und Themengebiets.
- Es gibt keine konsequenten Argumentationen, Meinung und Inhalt werden vermischt. Permanent klinken sich die gleichen Redner mit gleichen Argumenten erneut und erneut ein.
- Die Argumentation ist nicht inhaltlich, sondern dient dem Zweck, dem eigenen Vorgesetzten “nach dem Mund zu reden”. Das fördert im Zweifelsfall zwar die eigene Karriere, in seltenen Fällen aber das Unternehmen. Probleme, die der Chef übersieht, werden so vom ganzen Team ignoriert.
Grundsätzlich unterscheidet man bei Holacracy zwischen zwei Meeting-Arten: Erstens dem Holacracy Governance Meeting; zweitens dem Holacracy Tactical Meeting. Im Tactical Meeting geht es um die operative Arbeit eines “Circles”, also einer Gruppe, die zusammen für ein Thema zuständig ist – wie zum Beispiel Kundengewinnung oder Produkterlebnis. Bei Governance Meetings geht es dagegen um das Klären von Verantwortlichkeiten und Entscheidungsbefugnissen innerhalb dieses “Circles”. Im Fokus stehen hier eher strukturelle Prozesse, Regeln und Zuständigkeiten für die Zusammenarbeit. Also das “Wie”.
Beide Meetings weisen starke Parallelen auf. Typische Merkmale sind:
- Es gibt einen vom “Circle” bestimmten “Facilitator”. Seine Aufgabe ist, als eine Art neutraler Moderator darauf zu achten, dass die vereinbarten Holacracy-Spielregeln eingehalten werden. Dazu zählt unter anderem, dass durch eine Entscheidung dem Unternehmen nicht geschadet wird. Dazu zählt aber auch, dass jeder im Meeting gleich behandelt wird.
- Im Tactical Meeting geht der “Facilitator” gemeinsam mit dem Team kurz den Projektstand sowie die KPI durch. Die in ihrer Rolle jeweilig verantwortlichen Mitarbeiter geben kurz Auskunft. Der “Sekretär” protokolliert.
- Es wird vorab sehr viel Wert darauf gelegt, dass äußere Gegebenheiten das Meeting in keiner Art und Weise negativ beeinflussen. Die Verfügbarkeit und mögliche administrative Anliegen der Teilnehmer werden kurz im Check-In geklärt und geprüft.
- Danach entsteht die Agenda im gemeinsamen Dialog. Jeder kann stichpunktartig Punkte auf die Tagesordnung setzen. Wer einen Punkt anbringt, ist auch verantwortlich für dessen Ansprache.
- Steht die Agenda, sorgt der Facilitator dafür, dass ein Punkt nach dem anderen erörtert wird. Egal ob Tactical oder Governance Meeting, der Prozess sieht wie folgt aus: Derjenige, der den Punkt angesprochen hat, erörtert sein Anliegen und schlägt eine Lösung vor. Anschließend dürfen die Teilnehmer Verständnisfragen stellen. Erst wenn inhaltlich alles geklärt ist, kommt es zur Feedback-Runde: Nun dürfen die Teilnehmer Kritik, Meinungen, Einwände äußern (natürlich, ohne ausfallend zu werden). Wichtig: Jeder kommt nur ein einziges Mal zu Wort, eine Diskussion gibt es nicht. Alle reden aus, niemand fällt jemand anderem ins Wort. Anschließend liegt es am Inhaber des Agenda-Punkts, den eigenen Lösungsvorschlag zu ändern oder auch nicht.
- Evaluierung: Die Qualität eines jeden Meetings wird im Nachgang kurz beurteilt.
Bei uns sind wir von Anfang an konsequent nach der Holacracy-Systematik vorgegangen. Als Startup hatten wir die Vorteile, dass sich nicht große Teams komplett neue Automatismen aneignen mussten, auch mussten wir keine Prozesse umstellen, da wir sie erst neu aufgesetzt haben. Die schnell wachsenden Teams konnten sich dadurch einfacher an die bestehende Kultur anpassen. Umlernen und umgewöhnen fällt uns Menschen bekanntlich schwieriger.
Trotzdem war die neue Kultur für viele ungewöhnlich – schließlich hatten die meisten Kollegen in Unternehmen gearbeitet, in denen noch eine traditionelle hierarchische Unternehmenskultur herrschte. Was sofort auffiel, als die Theorie zur Praxis wurde:
- Die Differenzierung von Fakten und Meinung. Durch das klare Aufsplitten der Frageschleifen in Verständnis einerseits und Feedback andererseits wurde vielen Mitarbeitern klar, dass sie in ihrer eigenen Ausdrucksweise bislang beides unbewusst vermischen. An dieser Stelle ist es von Vorteil, wenn der gewählte Facilitator entsprechende kommunikative Sensibilität und Erfahrung mitbringt.
- Alle Argumente in ein Statement: In der Feedbackrunde hat man die Chance, seine Einwände einmalig zu formulieren. Sagt ein Kollege danach etwas, womit man so gar nicht einverstanden ist, hat man Pech gehabt. Nochmal zu Wort kommt man nicht.
- Aktivität: Die Meetings funktionieren nur, wenn sich jeder einbringt und Punkte auf die Agenda setzt. Passive Anwesenheit reicht nicht mehr. Dafür muss jeder mitdenken: Was läuft gut, was nicht? Was stört mich? Wie lässt sich dies lösen? Je nach Typ gar nicht so einfach.
Bleibt die Frage nach dem Mehrwert, sich als Unternehmen konsequent der Holacracy unterzuordnen. Gerade als Gründer gehört schließlich auch eine gewisse Portion Mut dazu: Man gibt die Macht, Meetings nach eigenem Gusto zu lenken, zu steuern und Themen zu priorisieren aus der Hand. Vor dem Facilitator genießt man keinen Sonderstatus. Die Entscheidungen akzeptiert man ebenso wie jeder andere auch. Aber: Wenn man alleine die Agenda setzt, beruht diese auf der Erfahrung einer einzigen Person. Bei Holacracy beruht diese auf der Erfahrung des ganzen Teams.
Nun macht Erfahrung noch keinen Meister. Allerdings trägt die stringente Struktur zur Entwicklung eines jeden Einzelnen bei: Dadurch, dass die Agenda ein Gemeinschaftsprojekt ist, denken alle mit, identifizieren Schwachstellen und entwickeln Lösungen. Die Empathiefähigkeit nimmt zu, weil sich die Gruppen mit den Standpunkten der anderen auseinander setzen. Auch die Kommunikationsfähigkeiten entwickeln sich rasant. Die Mitarbeiter trennen klar zwischen Inhalt und eigenem Standpunkt. Vor allem müssen sie rasch denken und alle wesentlichen Argumente prägnant in einem Rutsch vorbringen.
Um die Relevanz von Holacracy richtig einzuordnen, lohnt es sich, vor Augen zu führen, dass der Erfolg eines jeden Unternehmens letztlich aus der Leistung, der Kreativität, Intelligenz und dem Zusammenhalt der Mitarbeiter besteht. Dann ist es nicht mutig, die Unternehmenskultur darauf aufzubauen. Dann ist es fahrlässig, dies nicht zu tun.
Zum Autor
Florian Eismann ist Geschäftsführer von Bullet Global.
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