Warum deutsche Unternehmen nicht das nächste Amazon werden dürfen
Auf der Autobahn der Digitalisierung ist Deutschland leider weiterhin nicht auf der Überholspur angekommen – ganz im Gegenteil. Wir schleichen mit Tempo 100 auf der rechten Spur entlang, während andere Länder mit Vollspeed vorbeirauschen. Auch im EU-Vergleich liegen wir deutlich hinten. Und damit spreche ich nicht nur vom flächendeckenden Ausbau mit Gigabit-Netzen. Wenn ich von erfolgreicher und nachhaltiger Digitalisierung spreche, dann meine ich damit damit einen kulturen Wandel und den unbändigen Willen, sich selbst zu kannibalisieren. Nur so ist Fortschritt möglich. Dazu waren wir in den letzten fünf Jahren aber schlichtweg nicht bereit. Wir haben alle ein bisschen in der Sandkiste geübt, statt Brücken zu bauen. Wir haben die Digitalisierung verpennt. Wir haben Scheinlösungen für Probleme gefunden und uns nur aus dem Windschatten gewagt, wenn Lösungen schon woanders erfolgreich waren. Das holt uns nun ein. Wenn wir den Anschluss nicht vollkommen verlieren wollen, müssen wir endlich aufwachen.
The Winner Takes It All
Aufwachen also. Doch was heißt das konkret? Zunächst einmal bedeutet es, sich von den nostalgischen Gefühlen zu lösen. „Früher war alles besser“ gibt’s nicht mehr. Stattdessen werden die Ärmel hochgekrempelt. Zu groß ist bislang noch die Freude über Corporate Acceleratoren und zu gering die Bereitschaft, mutig und positiv gestimmt neue Wagnisse einzugehen. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass wir schlecht verlieren können und uns viel zu lange mit unseren Niederlagen beschäftigen. Nur wird es im digitalen, margenstarken und skalierbaren Wettbewerb keinen zweiten, dritten oder vierten Gewinner geben. The Winner takes it all. Um also nicht vollends von der Bildfläche zu verschwinden, müssen Unternehmen technologische Kompetenz aufbauen. Technologie ist schon heute ein zentraler Erfolgsfaktor und wird in naher Zukunft noch deutlich stärker der Katalysator unseres Handelns sein. Damit dieser Katalysator aber überhaupt gewinnbringend eingesetzt werden kann, brauchen deutsche Unternehmen schleunigst die nötige technologische Kompetenz.
Technologisches Know How muss im Unternehmen internalisiert werden
Nun ist es nicht so, dass Unternehmen nicht bereits erkannt hätten, das technologische Kompetenz nicht mehr länger ein USP, sondern Grundvoraussetzung für erfolgreiches wirtschaftliches Handeln im 21. Jahrhundert ist. Was sie aber oft noch nicht verstanden haben, ist, wie man solches technologisches Know-How einerseits bekommt und andererseits anwendet. Ein Unternehmen wie Facebook hat in seiner jungen Firmengeschichte schon ca. 70 andere Startups und Unternehmen akquiriert, um Technologie oder wichtiges Know How zu internalisieren. Wie hätten sie sonst auch so schnell wachsen können. Andere Unternehmen setzen auf intelligente Cloud-Lösungen von Startups und Tech-Companies, um ihre Mitarbeiter und ihre IT mit neuen und führenden Lösungen zu empowern. Was aber machen wir in Deutschland? Wir beauftragen Agenturen und Freelancer und fangen bei Adam und Eva an, indem wir alles neu aufbauen. Da hat man vermeintlich mehr Kontrolle und weniger Risiko. Man kann ja eingreifen. Vielleicht aber ist in Wirklichkeit die alte Denkweise das eigentlich viel größere Risiko?
Teilweise mag eine solche Vorsicht aufgrund des Investitionsstaus noch nötig sein. Aber auch dann sollte man doch überlegen, ob man hier auf eine Branchenlösung (ein Produkt) vertraut oder durch eine Akquisition – und damit die Mutigen und Schnellen inklusive des gesamten Teams, der Erfahrung und Lernkurve einkauft – schneller an sein Ziel kommen kann. Und fangt bitte nicht mit den Problemen einer Post-Merger Integration an, macht einfach mal und gebt den neuen Teams Luft, sich zu entwickeln, Ressourcen und Vertrauen. Es gibt in einem Wettbewerb mit “null Grenzkosten” nur Strategie, Kreativität, Risiko und Reward – aber keine Abkürzungen durch puren Fleiß oder die bessere Entscheidung durchs Abwarten – etwas, was uns in Deutschland vielleicht noch überraschen wird.
Die Digitalisierung führt zu Aufholeffekten bisher unbekannten Ausmaßes
Ein weiteres Problem verschärft die Problematik fehlender Akquisitionen und Investments zudem: der (digitale) Aufholeffekt. Die Logik des in der Volkswirtschaft bekannten Aufholeffekts (Catching-up-Effect) besagt, dass arme Volkswirtschaften tendenziell ein schnelleres Wirtschaftswachstum als reichere hätten. Doch die Digitalisierung führt die Logik des Effekts ad absurdum, weil sie zu einem Akzelerationseffekt bisher unbekannten Ausmaßes beiträgt. Die Halbwertszeit der technologischer Neuerungen sinkt rapide. Was heute neu und cutting edge war, ist morgen bereits überholt. Dies führt auch dazu, dass weniger industrialisierte Ökonomien einen großen Sprung nach vorne machen können und der Wettbewerb für die Nachzügler am untern Ende immer stärker wird; dass sich agile, schnell wachsende Unternehmen mit der hohen Geschwindigkeit immer weiter absetzten und ausdehnen können. Und wenn man etwas sarkastisch sein möchte führt es auch dazu, dass China es geschafft hat, so manche Ökonomien zu überholen, ohne sie jemals eingeholt zu haben. Je später digital unterentwickelte Unternehmen deshalb auf den Zug der Digitalisierung aufspringen, desto schwieriger wird es für sie, mit den digitalen Vorreitern mitzuhalten. Umso falscher ist es deshalb, wenn man heute sagt, man möchte das nächste Amazon werden. Vor zehn bis 15 Jahren wäre das eine progressive Aussage gewesen, heute spiegelt sie das Problem (und die Naivität) vieler deutscher Unternehmen wider. Das nächste Amazon zu werden ist der erste Schritt in die falsche Richtung, weil man damit einen Status Quo herstellen möchte, der vor mehr als einem Jahrzehnt zeitgemäß war. Denn dann rennen wir nur weiter hinterher, werden aber nie die Möglichkeit haben, irgendwo auch mal selbst den Ton angeben zu können.
Die Lösung des Problems
Die Versäumnisse der letzten Jahre in Deutschland sind mit normalen Mitteln deshalb nicht mehr aufzuholen. Die Versuche, sich selbst von innen heraus zu digitalisieren, indem man alles von Grund auf selbst macht, können nur scheitern, weil solche Versuche im Jahr 2018 anachronistisch sind. Um dem Akzelerationseffekt und den Versäumnissen der letzten Jahre die Stirn bieten zu können, sollten deutsche Unternehmen endlich verstehen, dass das über viele Jahre „gesparte“ Geld, was man damals nicht investiert hat, endlich (nun aber hochverzinst) in die Hand genommen werden muss, um interne Strukturen für technologische Kompetenz zu schaffen. Es braucht also sowohl die Bereitschaft, sich selbst zu hinterfragen und von Grund auf neue, interne Strukturen zu schaffen, als auch auch das nötige Wagnis und Kapital, sich auf langfristige, strategische Kooperationspartner einzulassen sowie das Wissen, in welchen Bereichen neue Möglichkeiten entstehen können. Nur so ist eine erfolgreiche Digitalisierung heutzutage überhaupt noch möglich. Weniger Leuchttürme, mehr echte digitale Prozesse und Produkte. Die Geschäftsmodelle müssen ganzheitlich digitalisiert werden. Inzwischen gibt es oftmals die nötige Technologie dafür auf dem Markt. Man muss jetzt vor allem verstehen, wie man sie kundenorient einsetzt und gleichzeitig mit dem USP und der Value Proposition des Unternehmens verbindet. Wir sehen schließlich täglich wie alte Technologien disruptiert werden und neue Produkte und Modelle durch radikales Hinterfragen des Status Quo sowie den richtigen Einsatz von Technologie geschaffen werden können. Sonst verpassen wir mit Auto-Deutschland gerade die nächste Runde im Innovations- und Digitalisierungs-Wettbewerb.
Über den Autor
Sebastian Kellner ist CEO und Co-Founder von Mesaic, einer Plattform, die Kundeninteraktion im Conversational Interface, z.B. Messaging, ermöglicht. Der Technologieanbieter unterstützt Unternehmen dabei, das bestmögliche Kundenerlebnis durch intuitive Kommunikation, eine enge Kundenbeziehung und effiziente Prozesse. Zu Mesaics Kunden gehören u.A. Euromaster, Veloyo und Hermes.
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