Gastbeitrag
Workcation: Berliner Startup überwintert in Kapstadt
Wie kommt man dazu, seine Startup-Mannschaft für die Wintermonate von Berlin nach Kapstadt zu verfrachten? Nun die Rezeptur dafür ist gar nicht so kompliziert:
- 1x verrückte Idee von zwei Mitarbeitern
- 2x Gründer, die offen für neue Ideen sind
- 1x überzeugenden Pitch
Ja wo gibt’s denn so etwas?
Wir sind in vieler Hinsicht kein konventionelles Unternehmen: Als Mitarbeiter können wir kommen und gehen wann wir wollen. Es gibt keine festen Arbeitszeiten – solange wir unsere Ziele erreichen. Unser Büro ist eine Mischung aus Arbeitsstätte und Gedanken-Spielplatz, damit wir uns ausleben können. Frühstück gibt es aufs Haus und ganztägig. Einmal im Quartal packen wir das Team ein und fahren für ein paar Tage irgendwo hin, wo wir einerseits die Planung für die kommenden Monate abschließen und andererseits eine tolle Zeit zusammen verbringen: Im letzten Jahr war das zum Beispiel ein Nirgendwo im wunderschönen Südfrankreich, der Brandenburgischen Seenplatte oder es ging in pulsierende Städte wie Valencia oder Prag. 99chairs ist eine Design-Tech Plattform für die Inneneinrichtung von Büros: Wir haben über 70 selbstständige Innendesigner aus der ganzen Welt in unserem Netzwerk, die wir an Firmen vermitteln. Dies bedeutet: Wir sind im Prinzip ein nicht ortsgebundenes Unternehmen – unser Hauptquartier ist zwar in Berlin, aber letztlich können unsere Leute von überall aus arbeiten.
So kam die „Workcation“ in Südafrika zustande
Als Frank und ich vor vier Jahren gründeten, ging es uns nicht nur darum, eine neue Geschäftsidee erfolgreich im Markt zu etablieren, sondern auch ein Unternehmen zu gründen, das sich in Bezug auf seine Kultur und sein Miteinander abhebt. Ich wollte nie in einem Hamsterrad laufen und dies auch nicht meinen Mitarbeitern zumuten: Sie sollen selbstbestimmt und flexibel arbeiten, früh Verantwortung übernehmen, Teamarbeit zu schätzen wissen und jederzeit ihre eigenen Ideen einbringen können. Nun, das Südafrika-Beispiel zeigt – sie tun es!
So kam es, dass zwei unser 99-Stühlchen uns im Sommer letzten Jahres eine außergewöhnliche Idee vorstellten:
„Lasst uns wie die Zugvögel in der Sonne überwintern! 2 Monate Workcation für unsere Truppe – in Kapstadt, Südafrika!“
„Eine was?“ fragten wir verdutzt.
„Na eine Workcation“, kam zurück, „wir arbeiten da wo andere Urlaub machen und genießen dafür urlaubsähnliche Verhältnisse nach Feierabend und am Wochenende.“
Da schluckten wir erst einmal nicht schlecht. Doch wie für einen perfekten Gründerpitch hatten sie sich ihre Argumente klar zurecht gelegt: Das spricht für eine Workcation.
Wir lernten also:
Erstens – Wissenschaftler der Michigan University haben herausgefunden, dass die Einstrahlung von Sonnenlicht einen großen Einfluss darauf hat, ob Arbeitnehmer zufrieden mit ihrem Job sind und sich voll engagieren oder nicht!
Zweitens – Produktivitätsstudien haben ergeben, dass Teammitglieder die Zuhause oder fernab der alltäglichen Umgebung , produktiver sind, wenn es sich um kreative Arbeiten handelt.
Drittens – Die Erfahrung würde uns als Team noch näher zusammenbringen. Wir würden an Feierabenden und Wochenenden Zeit miteinander verbringen, uns besser kennenlernen, ein anderes Verständnis füreinander entwickeln. [Anmerkung: Dies ist allerdings eine reine Theorie, die es noch zu belegen- bzw. wissenschaftlich zu untermauern galt.]
Die Entscheidung
Leider muss man sagen: Der Berliner Winter gehört nicht zu den wunderbarsten Seiten der Stadt – unerbittlich kalt, ungemütlich, grau, matschig. Brrrr. Natürlich war also der Grundgedanke, diesem unschönen Szenario zu entfliehen: Table Mountain, Strand und Kitesurfing, Sonne und in einer neuen Arbeitsumgebung arbeiten, klingt da schon besser. Zudem würden wir alle besser, engagierter, motivierter, produktiver arbeiten und eine noch engere Einheit bilden. Hach – welchem Geschäftsführer schmilzt da nicht das Herz?
Letztlich also keine schlechte Idee, dachten wir – denn wir sind selbst große Freunde davon, die Welt, die eigene Arbeit und letztlich auch das Sein oder Nichtsein immer mal wieder aus anderer Perspektive zu betrachten. Warum nicht auch aus (Zug-)Vogelperspektive?
Sie hatten uns also in der Tasche. Der Deal war: Wir als Firma übernehmen die Miete für das Büro vor Ort für die zwei Monate und alle Mitarbeiter, die möchten, können von Kapstadt aus arbeiten. Sie tragen jedoch Flug und Unterkunft selbst.
So gelingt der „etwas andere“ Betriebsausflug mit der ganzen Mannschaft
ABER (kein Ja ohne ABER): es war uns wichtig, zwei goldene Regeln aufzustellen, die wir als Voraussetzung dafür ansahen, dass das ganze Unterfangen auch von Erfolg gekrönt sein würde.
- Business as usual:
Wir sehen uns als Zugvögel an, die den Winter in der Sonne verbringen. Am Wochenende und nach Feierabend würden wir zwar spannende Abenteuer erleben können, aber ansonsten bleibt der Arbeitsalltag, mit all seinen Treffen (dann eben digital), Aufgaben und Verpflichtungen der Gleiche. Die Erwartungen werden nicht gesenkt, bestenfalls jedoch das Energielevel erhöht.
- Der Kunde ist und bleibt der König:
Egal wie weit wir weg sind: Der Kunde ist immer der Nabel der Welt und ihm gehört alle Aufmerksamkeit. Das Team verpflichtet sich, den Kunden während der „Workcation“-Zeit genauso umfangreich, sorgfältig und zu seiner vollsten Zufriedenheit zu betreuen. Auch Reisepläne müssen mitunter daran angepasst werden.
Chiang Mai, Medellin, Bali oder…?
Als Stadt der Wahl hatten sich die beiden Kapstadt herausgesucht; eine faszinierende Stadt und für das Vorhaben bestens geeignet: Umgekehrten Jahreszeiten, also prallster Sommer, wenn wir anreisen würden. Außerdem eine gute Infrastruktur, denn nur mit einer guten Internetverbindung würden wir natürlich effizient arbeiten können. Ein weiterer Pluspunkt: Lediglich eine Stunde Zeitverschiebung nach Deutschland – ein großer Vorteil für die Kommunikation und Interaktion mit Partnern und Kunden. Zudem eine große Auswahl an Apartments, auch für größere Gruppen geeignet und last but not least fantastische Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung: Ein vielfältiges und spannendes Angebot an Aktivitäten und Trips aus der Stadt raus.
Wie es hier so läuft
Inzwischen sind wir seit drei Wochen da: Knapp die Hälfte unserer Mannschaft hat sich entschieden, das Angebot wahr zu nehmen. Wir wohnen in WGs zusammen oder teilen uns ein Zimmer. Frank und ich haben vereinbart, dass wir beide jeweils einen Monat vor Ort sein werden, damit immer einer in Berlin die Stellung hält. Wie auch in Deutschland, so führen wir auch hier unsere wöchentliche „Teamlunch“-Tradition fort: Nur wollen wir hier natürlich so viel Neues wie möglich kennenlernen und kochen nicht in unserem Coworking Space oder lassen uns Essen bringen, sondern probieren jeden Freitag ein neues Restaurant aus. Wegen der Zeitverschiebung können wir morgens entspannt an, denn es dauert eine Stunde länger, bis auch Deutschland aufwacht. Dafür sind wir Abends, ohne es recht zu merken, oft länger da: Die Korrespondenz mit den Daheimgebliebenen trägt uns.
Das erste Fazit
Wir waren alle gespannt, wie wir unsere erste „Workcation“ erleben würden. Wie fühlt es sich an, die Kollegen die ganze Zeit um sich zu haben? Wie wirkt es sich auf Produktivität und Motivation aus? Der allererste Eindruck war: „Wow dann haben diese Klassenfahrten ja schon Sinn gemacht!“
Wir stellten fest, dass die Arbeitsatmosphäre von Anfang an toll und unglaublich produktiv war – denn der tägliche Trott wurde erfolgreich durchbrochen; jeden Tag steht man mit dem Gefühl auf, etwas Neues und Aufregendes zu entdecken – eine Neugier, die einem in seiner Stadt leider oft verloren geht. Wir arbeiten hier konzentrierter und effizienter; die Motivation ist unglaublich hoch. Natürlich muss man auch zugeben, dass das Klima seinen Dienst tut – am Wochenende wird mal ein Strandhaus gemietet, mittags lässt man sich draußen auf der Terrasse die Sonne in das Gesicht scheinen. Auch innerhalb des Teams passierte etwas: Der Austausch ging in eine zuvor nicht da gewesene Tiefe. Irgendwie fühlten sich alle verantwortlich für das Wohl des Anderen. Dadurch, dass wir uns so intensiv kennenlernten, wuchs tatsächlich schnell das bessere Verständnis füreinander.
Nach Hause telefonieren
Das Einzige, was uns zu Beginn etwas schwer fiel, war der Kontakt zu den Zuhausegebliebenen. Und damit meine ich nicht die Familie, sondern die Teammitglieder, die nicht mitgekommen sind. Es war klar, dass alle wöchentlichen Meetings natürlich auch per Videocall eingehalten werden würden, doch darüber hinaus wussten wir nicht: Sollten wir viel erzählen und Bilder schicken, oder wenig, denn wir wollten sie ja nicht neidisch machen und unnötig raushängen lassen, dass wir hier eine fantastische Zeit haben. Letztlich war die beste Strategie auch hier: Einfach fragen und direkt besprechen. So stellte es sich heraus, dass sie gerne hören wollten, was wir so treiben und sich freuen, wenn wir unsere Erfahrungen mit ihnen teilen. Gesagt, getan.
Die Zeit, die bleibt
Jetzt bleibt uns noch ein Monat und wir sind gespannt ob, es weiterhin so entspannt und produktiv bleibt, und was wir hier noch alles erleben. Eins ist sicher: Für das Modell „Workcation“ haben wir jetzt schon einen erfolgreichen ersten Piloten geschaffen. Und schauen dann beizeiten vielleicht einmal, wo wir das Projekt im nächsten Jahr hintragen könnten… Portugal, Sri Lanka, Mexiko?!
Zum Autor
Julian Riedelsheimer ist Gründer und Geschäftsführer von 99chairs.
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