Von Yvonne Ortmann
Mittwoch, 24. August 2016

“Ich liebe es, wenn meine Mitarbeiter bessere Ideen haben”

Als Teenager gründet Paul Martin den IT-Dienstleister vertical, um sich PC-Zubehör und Spiele zu leisten. Manche Fehlstunde nimmt er in Kauf, um Kundentermine wahrzunehmen. Doch vor der größten Herausforderung seiner Unternehmensgeschichte steht er erst jetzt.

Paul Martin liebt sein Start-up. Aber wenn er auf die letzten 15 Jahre zurückschaut, weiß er nicht, ob er den Weg mit dem Wissen von heute so noch einmal gehen würde. „Ich bin froh über das, was wir erreicht haben. Aber wenn ich von oben den Berg runterschaue, wird mir schwindelig. Zum Glück wusste ich beim Raufklettern nicht, was alles auf uns zukommt.“

Verzichtet hat der Dreißigjährige auf so manches. Zum Beispiel darauf, wie seine Altersgenossen nach der Schule einfach für eine Weile ins Ausland zu gehen. Bei der Gründung seines Start-ups vertical ist er gerade einmal 15 Jahre alt. Sein Mitgründer Alexandre Seifert ist ein Jahr älter und hat Martin das Herumfrickeln an PCs beigebracht. Immer öfter treffen sich die Nachbarsjungen zum Basteln und Spielen.

Zu Martins Leidwesen kosten Grafikkarten und anderes Zubehör eine Menge Geld. Was er beim Zeitungsaustragen verdient, reicht bei Weitem nicht aus. „Außerdem war mir das Zeitungs-Austragen auf Dauer zu anstrengend“, lacht Martin. Die Teenager realisieren, dass sich mit dem Legen von DSL-Anschlüssen und PC-Reparaturen schneller und einfacher Geld verdienen lässt. Der Bedarf im Bekanntenkreis ist so groß, dass die beiden das große Geschäft wittern. Martin ist bestürzt, als er erfährt, dass er mit 15 noch nicht voll geschäftsfähig ist. Über eine Sondergenehmigung gelingt es den Jugendlichen trotzdem, sich als IT-Dienstleister selbstständig zu machen.

Keine Hausaufgabenkontrolle, kein Startkapital

Martin glaubt, dass sein Weg ohne die positive Haltung von Eltern und Lehrern anders verlaufen wäre. Zwar hätten ihn seine Eltern nicht aktiv unterstützt, aber sie hätten ihn „einfach machen lassen“. So habe er früh Selbstständigkeit und Eigenverantwortung gelernt. „Es war klar, dass ich die Schule ordentlich abschließen soll, aber meine Eltern haben nicht meine Hausaufgaben kontrolliert oder Geld für gute Noten gegeben.“ Auch Startkapital gab es keins. So flossen die ersten, selbstverdienten 150 Euro in ein Rechnungsschreibprogramm.

In der Schule ist Martin davon abhängig, dass die Lehrer hin und wieder ein Auge zudrücken. Zum Beispiel, wenn er während einer Mathearbeit einen Termin zum Legen eines DSL-Anschlusses wahrnimmt. Für seine ehemalige Schule ist diese Toleranz im Nachhinein eine Win-Win-Situation, denn der Sulzbacher Gründer fühlt sich bis heute so mit seiner Schule so verbunden, dass er ihr aktuell dabei hilft, digitaler zu werden. Auch lädt er immer wieder Schüler ein, in seiner Firma verschiedene Berufsbilder kennen zu lernen oder Praktika durchzuführen. Denn mittlerweile beschäftigt vertical über 60 Angestellte.

„Als Gründer darf man nicht nur fachlich gut sein“

Nach der Schule entscheidet sich Martin, berufsbegleitend Wirtschaftsinformatik zu studieren – obwohl er schon fest im Berufsleben steht. Für den Fall, dass es mit vertical auf Dauer doch nicht klappt. „In Deutschland braucht man eben ein Zertifikat an der Wand“, seufzt er. Am Ende ist er froh über diese Jahre der Doppel-Belastung. Im IT-Bereich habe er zwar nicht viel dazu gelernt, aber viele Zusammenhänge verstanden. Und erkannt, wie wichtig die Verpackung ist. „Wir waren ja beides Pragmatiker. Aber als Gründer darf man nicht nur fachlich gut sein, sondern muss die Dinge mit den richtigen Worten beschreiben können und die Sicht der Betriebswirte verstehen.“

Mittlerweile könne er mühelos zwischen Technikern und Betriebswirten hin- und herübersetzen und seinen Kunden auf Augenhöhe begegnen. Was nicht nur mit seinem gewachsenen Verständnis, sondern ein bisschen mit dem Alter zu tun hat: „Auch die ersten Falten, die ich mir dank vieler durchgearbeiteter Nächte erarbeitet habe, geben mir die nötige Seriösität“, lacht er.

„Als Chef muss man die Fehltritte der Mitarbeiter mittragen“

Heute versucht Martin, seine gewachsene Philosophie an seine Mitarbeiter weiterzugeben. Dazu zählt an erster Stelle: Eigenverantwortung und der Mut, Fehler zu machen, anstatt blind Arbeitsanweisungen zu folgen. „Wir mussten uns damals ständig neu erfinden und mit Mut zur Lücke neue Herausforderungen annehmen“, erzählt der Gründer. Mit jedem größeren Kunden stand er vor einem noch größeren Serverschrank und musste Nachtschichten einlegen, um alles zu verstehen. Klar, dass dabei auch mal etwas schief ging. „Heute denke ich: Als Chef muss man die Fehltritte der eigenen Mitarbeiter aushalten und mittragen, wenn sie selbst mitdenken sollen. Ich liebe es, wenn die eigenen Leute mich überholen und bessere Ideen haben, als ich selbst gehabt hätte.“

Und was war die größte Herausforderung in seiner 15-jährigen Gründungsgeschichte? „Wir erleben sie aktuell“, schmunzelt Martin. „Es ist die Transformation vom Dienstleister zum Produkthersteller.“ Seit Frühjahr geht vertical einen radikalen Schritt: Das Unternehmen will zukünftig keine individuellen Lösungen mehr anbieten, sondern seine Lösungen in einer Art Baukastensystem anbieten. Den IT-Service aus der Cloud kann sich dann jeder Kunde „out of the box“ selbst zusammenstellen und bekommt die passenden Endgeräte zugeschickt.

„Wir haben uns endlich gefunden“

Dieser Schritt fühlt sich für Martin so gut an, dass er ins Schwärmen gerät. Nicht nur, weil sich das Geschäft nun viel besser skalieren lässt als bisher. Sondern weil sein Bauchgefühl stimmt und er spürt, dass sie sich „nach15 Jahren nun endlich so richtig gefunden haben. Bisher waren wir Dienstleister, die sich nach den Wünschen der Kunden richteten. Jetzt haben wir eine eigene Strategie und Vision, die wir transportieren können. Das ist mein größter Triumph als Gründer.“

Und so bleibt für den hessischen Gründer aktuell nur ein großer Wunsch offen: die lang ersehnte Weltreise. Immerhin, für kleinere Urlaube und freie Wochenenden sorgen die Gründer bereits. Nur den Traum einer längeren Reise konnte Martin noch nicht realisieren – dabei wäre es endlich das Ausbrechen aus seinem Leben als „ewigem Landei“.

Langfristig weg will er aus seiner Heimat aber nicht: „Wieso auch? Unser Standort vor den Toren Frankfurts ist ideal. Wir haben hier große Kundenpotentiale und unser soziales Netz ist auch vor Ort.“ Was für ein Glück für seine ehemalige Schule, die mit seiner Hilfe weiter den digitalen Sprung erlebt und ihren Schülern zeigen kann, dass Fehlstunden nicht immer zum Schulversagen führen.

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