Riga, die etwas andere Start-up-Hochburg
Sucht man nach Vergleichen für die Berliner Startup-Szene, geht es meist ums Silicon Valley. Doch auch der Blick in die andere Himmelsrichtung lohnt sich: Etwa 1.000 Kilometer nordöstlich von Berlin liegt Riga. Wie Berlin hat sich die lettische Hauptstadt als IT- und Startup-Hochburg neu erfunden. Riga und Berlin verbindet vieles, aber Unterschiede gibt es auch – vor allem bei Thema Finanzierung.
Riga ist mit knapp 650.000 Einwohnern die zweitgrößte nordeuropäische Stadt nach Stockholm und profitiert wie Berlin von seiner zentralen und verkehrsgünstigen Lage. Hinzu kommen optimale Rahmenbedingungen und Infrastruktur: Beim Internet-Geschwindigkeitsranking liegt Lettland auf Platz 8, Deutschland auf Platz 24. Eine Firma anzumelden dauert zwei Tage und lässt sich komplett online erledigen. Das kleine Lettland (zwei Millionen Einwohner) war früher ein IT- und Research-Zentrum der Sowjetunion und verfügt daher über eine überdurchschnittlich hohe Anzahl an IT-Fachkräften. Die lettische Regierung ist bemüht, bürokratische Hürden weiter abzubauen und greift Jungunternehmen mit zahlreichen Fördermöglichkeiten unter die Arme.
In Lettland rühmt man sich nicht, sondern macht erstmal
Dennoch gilt Riga (noch) nicht als IT-Hub. Hype sucht man vergebens. Das liegt auch an der Bescheidenheit der Letten – vielleicht der größte Unterschied zu Berlin. Ein Beispiel ist Catchbox, Mikro und Lautsprecher-Box in einem, die man zum Präsentieren ebenso wie für Fragen aus dem Publikum verwenden kann. Catchbox wird von Finnland aus vermarktet, R&D sowie Produktion finden in Lettland statt. Das weiß nur kaum einer.
„Die Szene und das Funding in Lettland sind weniger weit entwickelt als die Produkte. Derzeit erleben wir noch die erste Welle lettischer Startups, in der nächsten und übernächsten Generation wird auch das Umfeld nachziehen“, glaubt Uldis Leiterts, CEO von Infogr.am, einem Service zum einfachen Erstellen von Infografiken für Blogs und News-Websites. Mehr als 2,9 Millionen Infografiken wurden bereits mit Infogr.am gebaut. Kunden kommen häufig aus der Tech-Branche (u.a. The Next Web), aber auch deutsche Medienhäuser wie die Süddeutsche Zeitung nutzen die Dienste des Rigaer Startups. Mit bescheidenen 1,34 Millionen Euro erhielt Infogr.am eine der größten (bekannten) Finanzierungsrunden für ein lettisches Startup. Und die kam aus Berlin: „Wir wollten unbedingt mit Point Nine Capital und Christoph Janz arbeiten“, sagt CEO Uldis Leiterts. Grund sei vor allem die enorme Erfahrung mit SaaS-Startups. Denn: „Geld ist oft leichter zu bekommen als Expertenwissen.“
Bootstrapping ist die Regel, nicht die Ausnahme
Infogr.ams Weg ist in Riga eher die Ausnahme: Anders als in Berlin wird die Startup-Szene kaum durch VCs geprägt. Lokale Startups setzen eher auf frühe Monetarisierung, häufig durch B2B-Geschäftsmodelle, wie etwa Giraffe360, das virtuelle Objektbesichtigungen mit 3D Brille als Komplettservice für Makler anbietet. Ein anderes Beispiel ist Mass Portal, ein 3D-Printing Startup zum einfachen Herstellen von Prototypen. Mass Portal hat schon kurz nach dem Start zahlende Kunden überzeugt und finanziert damit die weitere Entwicklung seiner portablen Printer. Auch Airdog, eine Drohne, die ihren Besitzer bei Outdoor-Aktivitäten begleitet und filmt, sammelte Geld nicht von Investoren ein, sondern wählte den Weg übers Crowdfunding .
Ein Spielplatz für Erwachsene
Die Rigaer Draugiem Group mit mehr als 100 Mitarbeitern ist vom Startup direkt zum Seriengründer geworden, auch das ohne Fremdfinanzierung. Begonnen hat alles mit Draugiem.lv, einem sozialen Netzwerk. Seit 2004 gibt es Draugiem, gegründet von Lauris Liberts und Agris Tamanis. Doch anders als StudiVZ ist Draugiem bis heute das größte Social Network in Lettland, genutzt von mehr als der Hälfte der Bevölkerung: 1,2 Millionen Letten sind dort aktiv (registrierte User: mehr als 2 Millionen). Geld verdient wird zu fast 70% mit Mikrotransaktionen zum Preis von 40-60 Cent für Premium-Features, etwa für anonymes Browsen anderer Profile.
Bei Draugiem weiß man, dass Facebook ihnen früher oder später den Rang ablaufen kann, vor allem bei jungen Leuten. Um zukunftssicher zu bleiben, hat man neue Unternehmen gegründet. „Wir haben stets aus eigenen Bedürfnissen heraus agiert. Vor zehn Jahren waren Kreditkarten in Lettland nicht sehr üblich, deswegen haben wir Text2Reach als SMS-Bezahlmethode für Draugiem-Nutzer entwickelt“, erklärt Firmensprecher Janis Palkavnieks. Printful entstand, weil sich kein geeigneter Anbieter für Startup-Poster für das eigene Office fand. Und auch die smarte Heizungssteuerung Istabai wurde zunächst für das Draugiem-Büro selbst ausgetüftelt, genau wie die schlauen Fahrradschlösser Bindio, die man vor der Tür findet.
Andere Draugiem-Startups heißen Mapon, ein GPS-Kontrollsystem von Fuhrparks, oder Vendon, ein Snack-Automaten-Management-Tool, das auf derselben Technologie aufbaut. Sie alle teilen ein modernes Office in der Nähe des Rigaer Flughafens. „Draugiem Group ist wie ein Spielplatz für Erwachsene, wir haben keine Investoren, die uns nach Profit fragen. Die Gründer interessieren sich nicht für Yachten oder teure Autos, sie reinvestieren ihr Geld lieber in neue Produkte und Unternehmen“, sagt J?nis Palkavnieks.
Der Jahresumsatz der Draugiem Group lag nach eigenen Angaben für 2013 bei mehr als 19 Millionen US Dollar, der Gewinn bei rund 1,8 Millionen Dollar. Printful läuft so gut, dass es bald das umsatzstärkste Unternehmen der Gruppe sein wird: Soeben hat man eine eigene Druckerei in Los Angeles eröffnet. Und während der deutsche Social-Network-Pionier StudiVZ allenfalls noch in ‚Was wurde aus‘-Artikeln auftaucht, hat Draugiem aus einem lokalen Social Network mit eigenen Mitteln ein kleines Startup-Imperium geschaffen. Die lettische Bescheidenheit scheint sich in diesem Fall ausgezahlt zu haben.