Crowdsourcing – eine Industrie wird erwachsen – Gastbeitrag von Christine Weißenborn
Den Vielen gehört die Welt und die Zukunft. Darüber ist sich die Crowdsourcing-Branche einig. In San Francisco traf sie sich, um über den eigenen Erfolg und den der Masse zu rätseln – und um sich selbst zu definieren. Was man eigentlich sei, fragte Allan Gier, Professor an der Washington University. Eine neue Industrie? Eine Innovation? Ein Businessmodell? Als Industrie sei man irgendwie verwirrend, befand Niel Roberston, Gründer von Trada (www.trada.com) und Crowsortium (www.crowdsortium.org). “Wir sind ja noch so winzig”, scherzte Sharon Chiarella, Vice President von Amazon Mechanical Turk (www.mturk.com), es gebe bislang weder Konkurrenz noch Marktkonsolidierung. Und Carl Esposti, Gründer des Branchendienstes crowdsourcing.org, fragte in die Runde, ob eigentlich jemand eine Ahnung habe, wohin die Reise gehe. Kann eine Branche so voller Verwunderung, scheinbarer Planlosigkeit und Selbstzweifel ernstgenommen, erwachsen werden?
Ja. Gerade deshalb. “Crowdsourcing”, derzeit eines der am heißesten diskutierten Themen der Stunde – und das längst nicht mehr nur im Silicon Valley – breitet sich nicht nur in atemberaubender Geschwindigkeit aus, sondern das Modell verändert sich auch so schnell, dass es mitunter schwer fällt, die jeweilige Entwicklung nachzuvollziehen. Darüber herrschte unter den Teilnehmern der zweiten weltweiten Konferenz Crowdconf (www.crowdconf.com), die Anfang November in San Francisco zu Ende gegangen ist, Einigkeit.
“Crowdsourcing verändert die Arbeitswelt”
Vor allem wenn es darum geht, die Zukunft von Arbeit zu prognostizieren, zu verstehen und zu ergründen, fällt inzwischen rund um den Globus immer häufiger der Begriff “crowdsourcing”, werden Tätigkeiten von der und aus der Masse heraus ausgeführt anstatt singulär und individuell wie bislang üblich. “Crowdsourcing verändert die Arbeitswelt in einer Weise, wie es zuletzt Henry Ford mit seinem Fließband geschafft hat”, sagt Frederik Fleck, Serial Entrepreneur mit Sitz in Berlin und San Francisco, der mit testCloud (www.testcloud.de) in Deutschland gerade sein drittes Start-Up im Bereich crowdsourcing gegründet hat.
Die Crowdsourcing-Branche gehört zu den derzeit am schnellsten wachsenden überhaupt. Nicht nur hat sich deshalb das Medieninteresse nach Angaben von crowdsourcing.org innerhalb des letzten Jahres verdoppelt. Monatlich wird auch der Begriff “crowdsourcing” inzwischen 150.000 Mal in Suchmaschinen eingegeben – dreimal so oft wie noch vor einem Jahr. Jede Woche gehen drei neue Crowdsourcing- oder Crowdfunding-Seiten an den Start. Und auch in der Old Economy, bei Großkonzernen aber auch im öffentlichen Sektor, haben das Interesse an dem Thema und die Nutzung von crowdsourcing signifikant zugenommen, insbesondere im politischen und Hightech-Bereich je um 17 % und im Konsumgüterbereich um 14 %.
Von der raschen Entwicklung, dem Turbostart vieler US-Start-Ups wie uTest (www.utest.com), LiveOps (www.liveops.com) oder Crowdflower (crowdflower.com) und dem zunehmenden Interesse am Thema zeigte sich die Branche denn auch selber überrascht. Das man Erfolg haben würde und wolle, war klar. Aber so schnell so großen?
“Wir sind hier, um eine Industrie aufzubauen”
Gerade deshalb sei es, auch da herrschte Konsens im Plenum, an der Zeit, institutionalisierte Statuten und Formen der Abgrenzug für die noch so junge Industrie zu finden, die gerade erst im Begriff ist, eine zu werden. Es müsse nun darum gehen, die Natur von crowdsourcing zu definieren, zu entschlüsseln und das Business zu untersuchen, sagte Professor Grier. “Wir sind hier, um eine Industrie aufzubauen, um aus alten und vielen neuen Ideen etwas von nachhaltigem Wert zu schaffen, um die Möglichkeiten, die vor uns liegen, zu verstehen.”
Zwei Tage hatte die Branche dafür bei hunderten Dosen DietCoke, Cookies und Sandwiches im sonnigen San Francisco Zeit. Zum zweiten Mal hatte Crowdflower, eines der Vorzeigeeunternehmen der Crowdsourcing-Branche, zu dem Treffen im Bay Center geladen. Er sei überwältigt, wie groß vor allem in Europa das Interesse an dem Thema Crowdsourcing inzwischen sei, sagte Lukas Biewald, Gründer von Crowdflower. Tummelten sich im letzten Jahr noch um die zweihundert Gleichgesinnten im Konferenzsaal, waren es in diesem Jahr schon über 700 Teilnehmer aus allen Teilen der Welt, neben den USA vor allem aus Indien, China, Japan und Deutschland. Viele Gründer und Entwickler waren unter den Anwesenden, aber auch zahlreiche Investoren, Journalisten und Blogger. Dabei sei nicht einmal klar, was der Anlass für die Konferenz eigentlich sei, ulkte Biewald. Denn auch er fragte: “Sind wir überhaupt schon eine Industrie, die eine Konferenz veranstalten kann?”
Offenbar ja. Innerhalb von nur wenigen Jahren hat sich das Phänomen “Crowdsourcing”, was nach Biewald in der Ursprungsdefinition nicht mehr und nicht weniger als eine effiziente Form des “Outsourcings” ist, aus der sich auch der Neologismus aus “crowd” und “outsourcing” speist, zu einer neuen Form von Arbeit entwickelt – die nicht nur Crowdsourcing-Investor Fleck für ihre Zukunft hält. Das Wachstum kenne nur eine Richtung: nach oben, sagte auch Bielwald. “Es ist unglaublich, wie viele Unternehmen sich innerhalb von nur so kurzer Zeit verändert haben, wieviel Neues entstanden ist.”
Rosedale versammelte kluge Köpfe
Ein Beispiel: das just zum Konferenzauftakt gestartete Unternehmen von Secondlife-Gründer Philip Rosedale. Getreu dem Crowdsourcing-Prinzip, demnach viele Individuen in Masse mehr unter der Mütze haben als ein Einzelkämpfer, versammelte Rosedale weltweit kluge Köpfe mit Eliteuniversitätsabschlüssen, herausstechender Start-Up-Erfahrung, visionärem Geist oder bestechenden Programmierkenntnissen, um eine neue Unternehmensidee zu finden. “258 Guys in a Garage” nannte Rosedale sein innovatives Gründungsprinzip. Eine Million Euro Venture Capital standen für das Experiment zur Verfügung, bereitgestellt von Unternehmergrößen wie Amazon.com-CEO Jeff Bezos, LinkedIn Mitgründer Reid Hoffman und Mitchell Kapor, Gründer des Softwareunternehmens Lotus Development. Herausgekommen ist “Coffee and Power” (www.coffeeandpower.com), ein Ort an dem reale Menschen reale Dinge tun, wie Rosedale es nennt.
Während Rosedale mit Second Life um die Jahrtausendwende großes Medieninteresse weckte, weil er eine virtuelle 3D-Welt erschuf, in der Nutzer als virtuelle Charaktere, sogenannte Avatare, in einer virtuellen Welt leben, Dinge kaufen und verkaufen, beabsichtigt er mit “Coffee and Power” wieder in der realen Welt operieren. “Coffee and Power” ist ein Online-Marktplatz, auf dem die Nutzer ihre Arbeitskraft, Services oder Fähigkeiten anbieten können – und die Tätigkeiten dann ganz real ausführen. Das Angebot reicht von Arabischnachhilfe bis hin zur Android-Entwicklung für gehäkelte Tintenfische. Genutzt wird wie auch bei Second Life eine virtuelle Währung, das Konzept existiert aber im analogen Raum – es gibt in San Francisco sogar ein erstes Cafe, eine Art Arbeitslabor, in dem die Nutzer sich treffen und austauschen können. Weitere sollen folgen.
Auch das Start-up UFOStart (www.ufostart.com) launchte exklusiv im Rahmen der CrowdConf 2011. Die drei Gründer Thomas Hessler, Heiko Rauch und Jens Hewald sprangen in orangenen Astronautenanzügen auf die Bühne und sorgten nicht nur für Aufmerksamkeit im nach dem Lunch schläfrigen Auditorium, sondern auch für große Erheiterung. Nach dem lukrativen Verkauf ihres Performance-Marketing-Anbieters Zanox für mehrere hundert Millionen Euro an Axel Springer nutzt UFOstart nun crowdsourcing, um Investoren, Gründer und Entwickler zusammenzubringen. Auf ihrer Plattform solle jeder die Chance bekommen, Entrepreneur zu werden, sagte Hessler. Die Parole des Trios lautet: “Open, connected, crowdsourced.”
Mittels Crowdsourcing können Talente weltweit erreicht werden
Das Crowdsourcing die Arbeit verändern wird bzw. es schon tut, ist längst klar. “Coffee and Power” und “UFOStart” sind nur zwei Beispiele dafür, wie vielfältig die Verwendungsmöglichkeiten von Crowdcourcing inzwischen sind. Vor allem aber machen sie klar, dass sich die erwachsende Industrie zunehmend in Richtung eines globalen Talentpools entwickelt. Denn mittels crowdsourcing können Talente weltweit erreicht werden, völlig unabhängig von ihrer geogaphischen Verortung. Sie müssen allerdings gefunden, gemanagt und groß gemacht sowie Standards eingeführt werden, die faire Löhne garantieren sowie Aufstiegs- und Entwicklungsmöglichkeiten bieten – aus der Masse heraus. Zentraler Kernbestandteil für erfolgreiches Crowdsourcing sei deshalb, die Crowd zu motivieren, hieß es abschließend auf der CrowdConf.
Erreicht wurde also bereits einiges aber immer noch bleibe sehr viel zu tun, mahnte deshalb Gio La Vecchia, Gründer und CEO von Crowd Engineering (www.crowdengineering.com). Die Mission müsse sein, Crowdsourcing als natürliche Evolution zu etablieren. Ein natürlicher Markt aber sei Crowdsourcing noch nicht. Es gebe hohe Eintritsbarieren, wenig Integration und kaum Kontrollmechanismen Jeder müsse künftig Zugang zum Crowdsourcing haben sowie das Modell verstehen können, forderte La Veccia und die Brücke zwischen Crowdsourcing und dem Markt, der bislang noch nicht wirklich existiere, geschlagen werden. Man darf also gespannt sein, was die nächsten zwölf Monate bringen. Langweilig werden sie gewiss nicht und “crowdsourcing” im Auge zu behalten lohnt sich auf jeden Fall.
Zur Person
Christine Weißenborn ist freiberufliche Journalistin für Print/Radio – und interessiert sich für alles rund um die Themen „Entrepreneurship“ und „Crowdsourcing“. Nach einem Studium der Kulturwirtschaft in Passau und Chile, Stationen unter anderem beim ZDF, dem Tagesspiegel, der Zeit und einem Volontariat bei der Verlagsgruppe Handelsblatt, schrieb sie mehrere Jahre über Handels- und Konsumgüterthemen für das Handelsblatt.