Gastbeitrag von Judith Gentz

8 Besonderheiten von Lean Startups

Startups sind in einer 'hit or miss'-Situation: Sie müssen in sehr kurzer Zeit mit geringen Mitteln ein innovatives Produkt entwickeln, das von seiner Zielgruppe nachgefragt wird und aus ökonomischer Sicht marktfähig ist. Schaffen sie das nicht, sind sie unmittelbar in ihrer Existenz bedroht.
8 Besonderheiten von Lean Startups
Montag, 26. Januar 2015VonTeam

Vor diesem Hintergrund wurde 2011 im Silicon Valley die Lean Startup-Methode von Eric Ries begründet und von anderen Unternehmern und Experten weiterentwickelt.

Die wichtigsten Begründer und Treiber der Lean Startup-Methode sind: Eric Ries, Steve Blank, Ash Maurya, Dave McClure, Alexander Osterwalder.
Nahezu jede Unternehmensgründung im Silicon Valley beruht mittlerweile auf den Prinzipien und Instrumenten des Lean Startup-Ansatzes. Seit geraumer Zeit findet man immer mehr Lean Startups – weltweit und auch in Deutschland.

Lean Startup ist keine wissenschaftliche Theorie, sondern ein pragmatischer Ansatz, dessen systematische Vorgehensweise die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns reduzieren soll.

Zuweilen wird die Lean Startup-Methode missverstanden oder mit einzelnen herausgelösten Bausteinen wie das Minimum Viable Product überstrapaziert ohne den Überblick über ihre wichtigsten Prinzipien und Instrumente herzustellen. Dieser Beitrag soll einen Überblick über die – aus meiner Sicht – 8 wichtigsten Bausteine des Lean Startup-Ansatzes geben:

1. Unternehmensaufbau durch validiertes Lernen

Begriffe: Experimente, Hypothesen, Business Model Canvas, Lean Canvas, Build-Measure-Learn, Iterations, Pivot, KPIs

Die Aufgabe von Startups besteht darin, ein am Markt nachhaltig funktionierendes Geschäftsmodell zu finden und zu etablieren. Die Gründer eines Lean Startups akzeptieren, dass sie zu Beginn nichts anderes als vage Annahmen über ihr Geschäftsmodell machen können.

Auf der Suche nach dem funktionierenden Geschäftsmodell führt ein Lean Startup deshalb immer wieder so genannte Experimente oder Tests durch, die auf Hypothesen über einzelne Bestandteile des Geschäftsmodells beruhen.

Die Hypothesen werden in einem Framework, dem so genannten Business Model Canvas oder Lean Canvas zusammengefasst und kontinuierlich angepasst.

Untersucht werden Kundensegmente, Kundenversprechen, Produktvarianten, Erlös- und Abrechnungsmodelle, Vertriebswege, Servicestrukturen usw.

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Die Experimente laufen in einem schematischen Kreislauf ab (Build-Measure-Learn).

Alle Tests werden direkt in Interaktion mit der Zielgruppe durchgeführt, deren Reaktion auf ein modifiziertes Marktangebot gemessen und ausgewertet wird. Der gesamte Prozess wird als validiertes Lernen bezeichnet. Wissenschaftlich betrachtet entspricht dieses Vorgehen dem Empirischen Falsifikationsprinzip nach Karl Popper (1902-1994), der Methode von Versuch und Irrtum.

In der frühen Unternehmensphase, wenn sich das Startup auf der Suche nach seinem Geschäftsmodell befindet, kann es durchaus passieren, dass mehrere Modelle verworfen werden müssen, da sie am Markt keine Akzeptanz finden.

Kleinere Anpassungen am Geschäftsmodell nennt man in der Lean Startup-Welt Iterations, jedes radikal modifizierte Geschäftsmodell bezeichnet man als Pivot.

In dieser Unternehmensphase testet ein Lean Startup sein Marktangebot immer an einer möglichst homogenen Zielgruppe, die die Kernkundschaft (Pioniere) repräsentiert. Dieses Vorgehen reduziert das Marktrisiko, spart Zeit und Geld.

Die Erkenntnisse über das Verhalten einer überschaubaren Anzahl von Kunden einer weitgehend homogenen Zielgruppe geben Aufschluss über die zentralen KPIs (Key Performance Indicators) des Geschäftsmodells, welche sich so leichter auf eine umfassendere Kundengruppe und auf einen für Investoren überzeugenden Business Plan anwenden lassen.

2. Validiertes Lernen nur in Interaktion mit dem Kunden

Begriffe: Validiertes Lernen vs. Wasserfallmodell

“Es gibt keine Wahrheiten innerhalb der Büroräume, also geht raus aus dem Gebäude.” So lautet eine zentrale Botschaft des Lean Startup-Ansatzes. Der ganz frühe Kontakt mit der potenziellen Zielgruppe erhöht den Erkenntnisgewinn und senkt das Risiko des Scheiterns bereits auf der grünen Wiese, noch weit bevor das Produkt überhaupt entwickelt wird.

Frühere Ansätze, wie das in diesem Zusammenhang viel zitierte Wasserfallmodell, gehen mit langen Konzeptions- und Produktentwicklungsphasen einher. Nach diesem Verständnis war es lange üblich, Investorengelder auf Basis einer Idee und einem Fünfjahresplan einzuwerben. So wurden die Produktentwicklung und der Markteintritt finanziert.

Vor dem eigentlichen Produktlaunch wurden “Closed Beta”-Versionen des Produktes an Freunde und Verwandte veröffentlicht und deren wohlwollendes Feedback verarbeitet. Die Presseartikel wurden geschrieben, die Webseite erstellt, die Vertriebsmannschaft installiert und am Tag “X” war es dann soweit: Der erste Kontakt mit dem echten Kunden.

Doch der gewünschte Erfolg blieb aus. Nicht selten wurden bis zu diesem Tag Unmengen an Geld und Zeit investiert, aber der Kunde reagierte nicht mit der erwarteten Euphorie auf das neue Produkt wie die Gründer selbst.

Lean Startups demgegenüber treten sofort mit dem Kunden, aber auch mit Experten in ihrem Bereich oder sogar mit dem Wettbewerb in Dialog, um Erkenntnisse über die Akzeptanz ihrer Geschäftsidee zu gewinnen.

Mit Hilfe von Interviews, Produktvideos, einfachen Landing Pages, Produktverpackungen und ähnlichen einfachen, kostengünstigen Instrumentarien lernen Lean Startup-Gründer nicht nur die Sprache ihrer Kunden kennen, sondern auch deren Bedürfnisse, den Ort, an dem sie sich aufhalten, die Zahlungsbereitschaft, welche Lösungen sie heute nutzen und wie sehr sie sich eine neue Lösung wünschen.

Auch wenn es manch einem Gründer schwer fällt, ist es wichtig, dass die Gründer selbst mit Kunden und anderen Interessensvertretern in Kontakt treten und dies nicht an Hilfskräfte oder andere Teammitglieder delegieren. Nur wenn die Gründer offen mit der Geschäftsidee umgehen, können sehr früh wichtige Erkenntnisse über deren Erfolgsaussicht gewonnen werden.

3. Das Problem der Zielgruppe ist groß genug

Begriffe: Problem-Solution-Fit, Lean Canvas, Javelin Experiment Report
Viele Gründer beschreiben ihr Startup über die Funktionalität des Produktes, das sie anbieten (wollen), und nicht über das Problem, das sie für eine bestimmte Zielgruppe lösen. Nicht selten ist eine große Produktverliebtheit wahrzunehmen, die leidenschaftlich von den innovativen Produktdetails spricht, die Nicht-Experten (wozu in den meisten Fällen auch die Kunden zählen) nicht auf Anhieb verstehen und deshalb den Nutzen des Produktes auch schwer erkennen.

Lean Startups beschäftigen sich in der allerersten Phase mit dem Problem bzw. den Bedürfnissen ihrer Zielgruppe. In dieser Phase sind sie auf der Suche nach dem so genannten Problem-Solution-Fit ihres Geschäftsmodells.

Erst wenn die Zielgruppe eng genug eingegrenzt wurde, deren Problem hinreichend erfragt und analysiert wurde und zwingend genug erscheint, beschäftigen sich Lean Startups mit der Konzeption ihrer Lösung. Der Nutzwert der Lösung für die Zielgruppe leitet aus den Alternativen ab, auf die die Zielgruppe zurückgreift, um das Problem heute zu lösen oder ein Bedürfnis zu befriedigen.

Die zentrale Frage lautet dann: Was können wir schaffen, das sich von heutigen Lösungen für den Kunden wahrnehmbar unterscheidet und echten Mehrwert stiftet? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, hat Ash Maurya das Framework des Business Model Canvas für Startups angepasst und das Lean Canvas entwickelt.

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Es gilt hierbei herauszufinden, ob der Kunde das identifizierte Problem selbst auch als solches erkennt und sein Bedürfnis nach einer Lösung groß genug ist. Anderenfalls können wir als Experten zwar Probleme erkennen und die tollsten Produkte bauen, aber niemand wird sie nachfragen.

In dieser Phase führen Interviews und Gespräche mit der Zielgruppe weiter, aber auch Werbebotschaften und Landing Pages, die ein Kundenversprechen geben und daraufhin die potenzielle Zielgruppe eine Aktion (Click, Anmeldung, Merken o.Ä.) abverlangen, die Aufschluss über das Interesse geben. Das Javelin Experiment Report bietet einen Testleitfaden für die Durchführung der Problem Solution Fit-Experimente.

4. Produkt mit zentralem Kundennutzen

Begriffe: Product-Market-Fit, Minimum Viable Product

In der zweiten Unternehmensphase ist das Lean Startup auf der Suche nach dem so genannten Product-Market-Fit. Es ist die erfolgskritische Phase für ein Startup. “Make something people really want”, lautet hier der Lean Startup-Leitsatz.

Viele Startups entwickeln Produkte, von denen sie glauben, dass sie die Kunden wollen. Sie verbringen Monate, manchmal sogar Jahre damit, das Produkt zu perfektionieren, ohne es überhaupt jemandem zu zeigen, nicht selten aus der Sorge heraus, die Idee könnte von Dritten kopiert werden.

Eines der zentralen Aspekte des Lean Startup-Ansatzes ist die Verkürzung der Produktentwicklungszeit und der frühe Markteintritt. Die Anpassung des Produktes und seine Erweiterung soll direkt mit dem Kunden erfolgen. Auch die Erkenntnis, dass das Marktangebot keinen Nutzen für eine bestimmte Zielgruppe stiftet, ist eine wichtige Erfahrung in der frühen Unternehmensphase, um einen radikalen Schwenk herbeizuführen ohne sofort zu scheitern.

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Lean Startups nutzen das Konzept des Minimum Viable Product (MVP).

In kurzer Zeit werden die wichtigsten Produktfunktionalitäten entwickelt und am Markt schrittweise getestet. Entscheidend hierbei ist, dass keine unfertigen, fehlervollen Produkte angeboten werden, sondern ein funktionsfähiges, aber minimales Set an Kernelementen, die Mehrwert für eine bestimmte, homogene Kundengruppe stiften.

5. Die Zahl 0 ist ein Ergebnis

Begriffe: Startup Metrics for Pirates AARRR, Actionable Metrics, Split Test

Lean Startups messen die Ergebnisse ihrer Experimente in Form von Ausprägungen ausgewählter Kennzahlen und Metriken. Über das Ergebnis treffen sie vor dem Experiment Annahmen und nach dem Test bewerten sie das Ergebnis.

Dabei können der Erwartungswert und seine tatsächliche Ausprägung weit auseinanderliegen. Je weiter sie auseinanderliegen, umso größer ist die Validität der Bewertung, d.h. der Lerneffekt.

Insbesondere wenn das Ergebnis ergibt, dass sich beispielsweise kein einziger der angesprochenen Kunden für das Angebot interessiert, ist dies ein wertvolles Ergebnis. Die Zahl 0 ist ein eindeutiger Indikator dafür, dass eine wesentliche Anpassung des Geschäftsmodells oder gar dessen Verwurf notwendig ist.

Im Kontext von Metriken und Kennzahlen für Lean Startups hat der Investor Dave McClure einen wichtigen Beitrag mit seinen “Startup Metrics for Pirates” und dem Customer Funnel AARRR (Acquisition Activation Retention Referral Revenue) geleistet, auf den ich an dieser Stelle verweisen möchte.

Drei wichtige Fakten über Metriken sollten Lean Startup-Gründer beherzigen:

  • Metriken geben zwar Aufschluss darüber, dass etwas nicht so funktioniert wie angenommen, aber sie machen keine Aussage darüber, warum es nicht funktioniert hat oder wie man das Ergebnis verbessert. Im diesem Schritt des “Lernens” kommt es entscheidend auf die kognitiven Fähigkeiten der Gründer an.
  • Man sollte sich auf die Kernmetriken des Geschäftsmodells konzentrieren. Die meisten Gründer tendieren dazu, so viele Daten wie möglich zu sammeln. Heutzutage ist es jedoch möglich annähernd alles zu messen, was die Aussagekraft der Daten nicht erhöht, sondern eher zu einer Desorientierung führen kann.
  • Für den größten Lerneffekt sorgen so genannte Actionable Metrics und nicht Vanity Metrics. Actionale Metrics verbinden spezifische und wiederholbare Aktionen, die über die Zeit beobachtet werden. Zum Beispiel kann in so genannten Split Tests einem Teil der Kunden ein anderes Angebot machen als einem anderen Teil und beobachten, wie sich diese Unterscheidung auf das Kundenverhalten auswirkt.

6. Skalierung ist ein spätes Problem

Begriffe: Scale (Customer Creation)

Lean Startups durchlaufen in der Regel drei Phasen:

1. Problem Solution-Fit (Customer Discovery)

2. Product Market-Fit (Customer Validation)

3. Scale (Customer Creation)

Nach dem traditionellen Vorgehen wird zunächst das Produkt fertigentwickelt, die Vertriebsstruktur installiert, das Produkt gelauncht und erst dann werden erste Kunden akquiriert.

Für dieses Vorgehen benötigt ein junges Unternehmen sehr früh erhebliche finanzielle Mittel und die Unsicherheit über den Erfolg des Investments bleibt bis zum ersten Kundenkontakt extrem hoch. Lean Startups dagegen benötigen erst dann wirklich signifikant Geld, wenn sie bereits wissen, nicht glauben, wer ihre Kunden sind und welches Angebot sie nachfragen.

Sie können zu diesem Zeitpunkt bereits sehr viel genauer abschätzen, wie viel Kapital sie benötigen, um in einem Segment das gesamte Kundenpotenzial erfolgreich zu erschließen und wie viel Geld sie mit diesen Kunden verdienen werden.

Dieser Schritt erfolgt erst in der dritten Phase eines Lean Startups, in der Skalierungs- bzw. Customer Creation-Phase. Meistert das Lean Startup diese Phase erfolgreich, verlässt die Organisation den Status eines Startups und wird zu einem am Markt etablierten Unternehmen.

7. Unternehmertum ist Management

Begriffe: Lean Stack, Lean Canvas, Lean Dashboard, Experiment Report, Kanban, Agile Development

Auch Lean Startup-Gründer brauchen neben ihrer Unternehmerleidenschaft und ihren kognitiven Fähigkeiten ausgeprägte Führungskompetenzen, trotz oder gerade wegen der Lean Startup-Philosophie von Versuch und Irrtum.

Die Lean Startup-Methode ist keine Ansammlung taktischer Maßnahmen, sondern eine systematische Vorgehensweise, wobei Vision, Strategie und validierte Lernprozesse im Zuge der operativen Prozesse in extrem kurzen, agilen Zyklen sehr eng aufeinander abgestimmt werden. Jedes Experiment muss geplant, vorbereitet, integriert und mit den verfügbaren Ressourcen durchgeführt werden.

Das Lean Startup-Universum wird vor diesem Hintergrund angereichert mit nützlichen Tools und Instrumenten. Für die koordinierte Planung der verschiedenen Betrachtungsebenen sind aus meiner Sicht die im Zuge des so genannten Lean Stack von Ash Maurya entwickelten Instrumente geeignet:

Vision:
Lean Canvas Abbildung und Adaption des Geschäftsmodells Strategie

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Lean Dashboard
Überblick über die erreichten Ziele und Planung der Experimente

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Operations:
Experiment Report Durchführung einzelner Experimente (begleitet von Kanban für Startups und Agile Development)

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8. Was neben Geschwindigkeit noch zählt

Der Lean Startup-Ansatz zielt stark auf die Gewinnung von Erkenntnissen über den Erfolg des Geschäftsmodells in sehr kurzer Zeit.

Neben der Geschwindigkeit sind aber auch zwei weitere Faktoren erfolgskritisch, nämlich die Fokussierung und die kognitiven Fähigkeit beim Lernen.

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Erst das Zusammenspiel aller drei Faktoren führt zum erfolgreichen Lean Startup. Wird nur eines der Faktoren vernachlässigt, erhöht sich automatisch die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns.

Lesetipps zum Thema

* Blank, Steve; Dorf, Bob (2012) The Startup Owners Manual: The Step-By-Step Guide for Building a Great Company. Pescadero/CA 2011
* Maurya, Ash (2012): Running Lean: Iterate from Plan A to a Plan That Works. Sebastopol/CA 2012
* Osterwalder, Alexander; Pigneur, Yves (2010) Business Model Generation: A Handbook for Visionaries, Game Changers, and Challengers. Hoboken/NJ 2013
* Ries, Eric (2011): The Lean Startup: How Today’s Entrepreneurs Use Continuous Innovation to Create Radically Successful Businesses. New York/NY 2011

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Zur Person
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Dr. Judith Gentz ist Gründerin und Geschäftsführerin der milabent GmbH, einem Software-as-a-Service-Unternehmen aus Hamburg und Dozentin für Entrepreneurship. Judith engagiert sich in der Stadt Hamburg für die Startup-Szene und für die Integration der Hochschulen in die Gründerlandschaft. Sie gibt Kurse zum Thema Lean Startup und veranstaltet Workshops für Entrepreneure und Intrapreneure.

Bild oben: Shutterstock, Lean Startup